Am Wochenende werde ich davon geweckt, dass jemand auf mein Bett springt. Stöhnend schlage ich die Augen auf, als ich Luna auf meinen Beinen entdecke. Sie sitzt allen Ernstes umgezogen im weißen Hoodie, mit zerrissener Jeans und einem Tablett gefüllt mit Schokocroissants und zwei Kakaotassen auf meiner Matratze. „Bist du wahnsinnig?", begrüße ich sie auch und richte mich auf, wobei mein Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch fällt: sechs Uhr dreiunddreißig. „Nö, schon wach. Und du Schlafmütze hast selten so lange geschlafen wie heute", grinst sie mich ein wenig überdreht an, dazu rüttelt sie an meiner Bettdecke. Man, was ist bloß los mit ihr? „Hm? Was genau ist los und wo ist die echte Luna?", gähne ich und halte mir extra die Hand nicht vor den Mund, nur um meine beste Freundin zu ärgern. „Im Stress. So und jetzt komm schon, frühstücke mit mir, ich habe sogar extra deine Kerzen angemacht", Luna deutet nebensächlich auf die wenigen Kerzen, die ich in die Fensterbank gestellt habe. Es sind die Einzigen, die ich in Läden gefunden habe, die nicht nach irgendwelchen süßen Beeren, sondern nach Zitrone riechen. „Na gut", grummele ich und angele aus meinem Bett nach dem Hoodie, den ich gestern achtlos auf den Boden geschmissen habe. Er stinkt noch ein wenig nach der holzigen Kneipe, in der ich gestern mit Sid gewesen bin. Aber nachdem ich scheinbar keine andere Wahl habe – es sei denn, ich möchte zum Schrank gehen – ziehe ich mir das dunkelgraue Ding über und greife nach einer der beiden Tassen auf Lunas Schoß. „Warum frühstücken wir nicht mit den Männern?", frage ich und schlürfe aus der Tasse, Luna lacht auf. „Damit wir nochmal für uns reden können. Du bist die ganze Woche nur noch in der Redaktion und ich sitze da und lese hunderte von schlechten Manuskripten", Luna beißt in ihr Crossaint und seufzt verträumt auf, woraus ich entnehme, dass sie ganz okay schmecken werden. „Jep, worüber willst du denn so dringend quatschen?", frage ich scheinheilig, auch wenn ich mir absolut sicher bin, dass es um die ganze Tim-Sache geht. „Na was wohl? Meinen Urlaub mit Maik, den Antrag, deine sturmfreie Zeit mit Tim, seinen Unfall, euren Termin bei seinem Psychologen, eure Blicke am Abendbrottisch, ...", spricht Luna mit vollem Mund und grinst mich an. Das ist typisch wir – wenn wir alleine sind, die Manieren komplett zu ignorieren, weil es eh nur wir sind. „Dann fang du doch an, du willst doch die ganze Zeit schon reden", stupse ich Luna an, sie holt sofort Luft, noch bevor sie aufgekaut hat. Ich selbst nutze die Zeit, um überhaupt erst richtig wach zu werden, denn egal, wie lange ich schlafe, muss ich von selbst aufwachen, um nicht müde zu sein. Kaum habe ich das Gefühl, für den Tag zu gebrauchen zu sein, ist Luna auch schon fertig mit ihrem Bericht über Büsum. Wenn ich richtig aufgepasst habe, hat sie nochmal in allen Einzelheiten erzählt, wie süß der Antrag war und vor allem wie heiß die Verlobungsnacht war – Dinge, die ich gar nicht wissen will, erst recht nicht, wenn wir zu viert zusammenwohnen. „Oh, und wir haben es endlich unseren Eltern gesagt", fügt Luna strahlend hinzu, sodass ich pfeife. „Krass. Und, eure Mütter haben schon eine Party mit der ganzen Verwandtschaft geschmissen?", vermute ich, so wie ich Frau Vech und Frau Rotschmied kenne. „So ähnlich. Meine Mutter will wirklich eine Party machen! Und ich habe so gar keine Lust, da im Kleid aufzutauchen, nett zu lächeln und mir insgeheim vorzustellen, wie ich meine Cousins alle abmurkse", regt Luna sich auf und funkelt mich automatisch an, ich nicke erst einmal. „Also hast du ihnen nicht verziehen? Und deine kleine Schwester?", hake ich vorsichtig nach, weil ich weiß, dass ich sonst gleich einen Teller samt Crossaint im Gesicht haben werde. „Na die freut sich natürlich, die wird sich sicher in den Mittelpunkt spielen", Luna verdreht die Augen und lehnt sich energisch mit dem Rücken an die Wand, sodass ich mir sicher bin, dass Tim auch von dem ruckartigen Geräusch aufwachen wird. „Wäre doch eigentlich gut? Ich dachte, du willst eh keine Aufmerksamkeit deiner lieben Verwandtschaft", kommentiere ich wohl etwas zu locker, sodass Luna mich streng anschaut. „Na ja, keine Ahnung. Ist das nicht total bescheuert? Ich bin erwachsen und mache mir noch immer Gedanken, wie ich bei anderen Menschen ankomme", sie lehnt ihren Kopf auf meine Schulter auf, ich schmunzele. „Du bist halt so ... sozial? An deinen Mitmenschen interessiert, eine der offensten und kommunikativsten Personen, die ich kenne", suche ich nach Worten, die Lunas Situation irgendwie besser machen könnten. „Manchmal wünschte ich, ich wäre so taff und hart wie du. Du kannst alles an dir abprallen lassen, hast fast immer einen frechen Spruch auf den Lippen und bist so sarkastisch und lässig", murmelt Luna, wobei ich das Gefühl habe, dass sie ihren Schokomund an meinem Hoodie abschmiert. Nachdenklich betrachte ich ihren Kopf, von dem ich nur das blonde Haar sehe, das sich kräuselt. „Okay, dann ... nimm mich mit", höre ich mich selber sagen. Oh verdammt, ich bin so dämlich. „Wirklich? Du hast echt Lust, dich mit meinen ätzenden Verwandten anzulegen? Und Maiks spießige Großeltern werden auch kein Spaziergang ...", wirft Luna ein, ich atme tief durch. Irgendetwas bin ich Luna und Maik sowieso schuldig, dass die beiden mich hier aufgenommen haben. Wieso sollte ich also nicht mit zu deren Familien fahren und durch die Anwesenheit eines Nicht-Familienmitglieds die Stimmung auflockern? Ganz abgesehen davon muss ich sowieso alle wiedersehen, spätestens für die Hochzeit von Luna und Maik ... „Jap, ich weiß. Also sorge ich für ein wenig Chaos und gebe ihnen einen Grund doof zu schauen und du und Maik, ihr habt eure Ruhe", ich zucke leichthin mit den Schultern, auf denen Luna immer noch schwer liegt. „Dann habe ich gleich noch einen Punkt mehr, weswegen sich alle aufregen werden. Maik nimmt meinen Nachnamen an, weil der besser klingt", ich höre sofort das breite Grinsen in Lunas Stimme, was mich wider Willen auch lächeln lässt. Und genau so etwas sind die Probleme in der Familie der beiden: Alle anderen Familienmitglieder sind relativ konservativ, was ich schon bei der Konfirmation der beiden miterlebt habe. Den meisten geht es nur um Luxus, Kontakte und konventionelle Werte – womit die Beziehung von Luna und Maik an sich sehr begrüßt wird, da sie jeweils die Ersten füreinander sind. Das Anstrengende ist eher, dass die meisten erwarten, dass sich die beiden nach dem typischen Rollenbild verhalten. Genau so etwas treibt mich zur Weißglut, was auch wieder ein gefundener Gesprächsstoff für alle bietet, da ich wohl noch mehr aus dem Muster falle als das Paar. Zwar haben die beiden Mütter mich jeweils akzeptiert, aber die ganzen Großeltern und sonst etwas: keine Chance. „Das bringen wir denen schon bei und wenn nicht, ist doch auch nicht schlimm", brumme ich, Luna lacht. „Du meinst, dass es nicht schlimm ist, wenn meine oder Maiks Oma einen akuten Herzinfarkt erleidet?", Luna unterdrückt ihr Lachen so gut es geht, ich boxe sie. „Das habe ich nicht gesagt, jedenfalls nicht direkt. Aber wann wäre dieser spießige Spaß denn?", seufze ich. Um ehrlich zu sein, kann ich mir Besseres vorstellen, als an einem der kommenden Wochenenden zu einer absolut konservativen Gesellschaft zu fahren, nämlich das Weiterschreiben an meinem Roman. Andererseits: Eine gute Ablenkung von der Sache mit meiner Mutter kann das Ganze auch sein. „In drei Wochen?", fragt Luna extra scheinheilig, ich verpasse ihr noch einen Stoß in die Rippen. „He, gleich kommt das Hörnchen wieder hoch", beschwert sie sich auch, während ich zufrieden grinse: „Pech." „Oh ja, Pech, denn jetzt kann ich dich ausquetschen", Luna erhebt sich von meiner Schulter und schaut mich herausfordernd an, während sie sich sadistisch die Hände reibt. „Vergiss es, wir reden schon viel zu viel über Kerle", ich schüttele den Kopf, doch natürlich nützt es nichts. Luna liebt es, mein Leben zu analysieren, früher genauso sehr wie heute. „Sag schon, was genau läuft da mit Tim? Wie oft habt ihr euch bitte in den letzten Tagen geküsst?", Luna legt die Stirn in Falten, als sie mich aufmerksam beobachtet. „Oft?", schnell nehme ich wieder einen Schluck Kakao aus der dunklen Tasse, bevor ich antworten muss oder Luna sehen könnte, wie meine Lippen zu prickeln beginnen. Aber es stimmt, wir haben uns die letzten Tage oft geküsst, viel zu oft. Als wir nach dem Treffen nach Hause kamen, am nächsten Morgen, als wir alleine in der Küche waren, als Tim mich am Abend an der Haustür abgefangen hat, als wir uns am Freitag in der Früh auf dem Flur begegnet sind und noch irgendwann, sodass ich schnell aufgehört habe zu zählen, wie oft sich unsere Lippen berührt haben. Jedes Mal hat sich der Kuss so verdammt gut angefühlt, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass ein Kuss der Letzte sein soll. Und dann ist da noch die Art, wie Tim mich davor und danach ansieht: intensiv, verlangend, und doch als wäre ich etwas total Wertvolles. Nicht, als wäre ich gebrechlich oder zu beschützen, eher als ... ich kann es nicht beschreiben, dafür ist es zu gut. „Hmmm", macht Luna nur und grinst versaut, was das Ganze eher schlimmer macht. Sofort setze ich die Tasse wieder ab, um doch zu protestieren: „Hey, ich weiß nicht, was das wird. Verstehst du, ich komme mir einfach total ... mies vor in manchen Momenten. Damals habe ich mir geschworen, dass ich niemals wieder mit Tim zusammenkomme, ihm niemals verzeihen werde und alles, alles wegen meiner Selbstachtung und dann trete ich sie plötzlich mit Füßen, als wäre ich eine dieser naiven Frauen, die daran glaubt, dass Männer sich ändern können", rutscht es mir heraus und andererseits fühlt es sich so erleichternd an, mit jemandem darüber reden zu können. Einen Moment lang starrt Luna mich erschrocken an, dann schüttelt sie langsam den Kopf. „Das bist du nicht, Emma, das weißt du. Du hast mehr als bewiesen, dass du nicht so denkst und außerdem gibt es niemanden, dem du das beweisen musst, außer dir selbst. Wir anderen wissen alle, was für eine starke Frau du bist. Ganz abgesehen davon ... willst du meinen Rat als beste Freundin oder als Mitbewohnerin hören?", sie legt den Kopf schief, was sie immer tut, wenn etwas besonders kniffelig zu lösen ist. Gleichgültig zucke ich mit den Schultern und lehne den Kopf an die Wand. „Dann sage ich dir jetzt als deine Mitbewohnerin etwas. Und zwar, dass es so nicht weitergeht. Du kannst Tim nicht ewig hinhalten, er liebt dich über alles. Und solltest du vorhaben, das Ganze zu beenden, dann ... dann ... Emma, er ist auch mein Mitbewohner und ein echt guter Freund, der jahrelang gelitten hat, er hat deinetwegen so oft geweint und hatte übelste Albträume. Ich habe Angst, dass ihr euch gegenseitig verletzt, beziehungsweise du vor allem ihn. Denn bei ihm kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass er dir noch einmal so etwas annähernd antun würde, im Gegenteil. Er bereut seinen Fehler zutiefst, das weißt du. Manchmal braucht die große Liebe einfach eine zweite Chance, denkst du nicht?", Luna drückt kurz liebevoll meine Hände, die die Tasse fest umklammern. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Recht hat sie. „Aber ich habe Angst. Ich weiß einfach nicht, ob ich das alles schon kann. Eine Beziehung. Mit offiziellen Dates, dem Online-Scheiß, allem. Dem Sex", jetzt ist es raus. Das Thema, das mich am meisten beschäftigt. Denn da ist immer noch diese kleine miese Stimme in meinem Hinterkopf, die mir sagt, dass Tim vielleicht nur einmal mit mir schlafen will und dann alles anders sein kann. Mir ist klar, dass sein Tattoo und seine Blicke, seine Worte, all seine Taten und jedes noch so kleinste Verhalten dagegensprechen und trotzdem kann ich mich selbst nicht recht überzeugen. „Oh, Emma", Lunas Blick ist einfühlsam, „ich verstehe dich, aber ihr könnt es auch langsam angehen lassen. Eurer Vertrauen muss erst wieder wachsen, eigentlich ist es umso besser, wenn ihr euch einige Wochen oder Monate Zeit damit lasst. Ganz abgesehen davon gibt es auch noch andere Wege, sich näherzukommen wie du weißt ..." Bei ihren Worten kommen Bilder von damals auf, die Hitzestöße durch meinen Körper jagen. Verdammt. „Klar, aber ... ach, ich weiß doch auch nicht", murmele ich in mein Shirt, anstatt meine beste Freundin anzusehen. „Ach ja? War sein Körper etwa nicht überzeugend genug, als du ihn abgeduscht hast? Ich weiß alles, zumindest das, was Maik mir erzählt hat, was Tim ihm gesteckt hat und -", beginnt Luna und kreischt dann los, als ich sie energisch mit meinem Kissen abwerfe. „He!", sofort reibt sie sich über die Wange, stellt ihren Teller vorsichtshalber auf den Boden und greift dann mit verengten Augen nach meinem Kopfkissen, ich tue es ihr gleich und lache.
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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...