Gehetzt überspringe ich immer eine der Treppenstufen, bis ich oben an unserer Wohnungstür angekommen bin. Als ich höre, dass unsere Nachbarin unten den Hausflur betritt, beeile ich mich noch mehr, den Schlüssel aus meiner Jackentasche zu näseln und ewig am Schloss herumzurütteln, bis ich nach drinnen gelange. Sofort schließe ich die Haustür schwungvoll hinter mir, sodass es laut knallt, weil auch noch die Balkontür geöffnet sein muss. Mit schnellen Schritten gehe ich in die Küche, meine Tasche noch über der Schulter und auch noch meine Lederjacke und die dreckigen Chucks angezogen. Als ich schwer atmend die Küche betrete, schaut Tim vom Herd auf. Zuerst ist sein Blick ganz entspannt, ein wenig fragend, aber als er sieht, wie durchgeschwitzt und aufgewühlt ich bin, legt sich eine tiefe Besorgnis in seinen Blick. „Was ist denn passiert?", Tim lässt den Kochlöffel im Topf stehen und kommt auf mich zu, wobei er noch einen Abstand von einem Meter einhält. In unserem Falle würde ich glatt von einem Sicherheitsabstand sprechen. „Du ... du bist hier", keuchend schnappe ich ein wenig nach Luft, von der ich beim Rennen gar nicht bemerkt habe, dass sie mir fehlt. „Ja, ich bin da. Was ist denn los, Em ... ma?", Tim mustert mich besorgt, bis er den Abstand zwischen uns verringert, sodass ich schon das Fett und die Kochöle an ihm riechen kann. Als ich nicht sofort antworte, wird Tims Blick panisch, was mir fast leid tut. Aber ich kann gerade nichts sagen; die Worte bleiben mir im Hals stecken. Er ist da. Ich bin hier bei ihm. Er lebt. Es ist, als müsste ich das alles realisieren. Klar war mir das die ganze Zeit, aber jetzt erst kann ich es verinnerlichen, kann ich die Information als fest gegeben verarbeiten. „Hey, was ist los?", Tims Hände streichen über meine Wange, was mich wieder in die Wirklichkeit katapultiert. Ertappt blicke ich ihn an, immer noch ein wenig nach Atem schnappend. „Bitte rede mit mir, ist etwas passiert?", Tims Hände wandern warm von meinen Wangen über meine Stirn und graben sich in mein Haar. Sie fühlen sich anders an als diese Liebkosungen, die damals zwischen uns waren. Wieder brauche ich ein paar Sekunden, um zu verstehen, was er da tut – es ist keine zärtliche Berührung, sondern er sucht meinen Kopf nach einer Verletzung ab. Und dennoch prickelt es ganz verrückt, als Tims Fingerkuppen über meine Kopfhaut streichen. „Nein, es ist nichts passiert", langsam aber sicher schaffe ich es, mich wieder zuordnen. „Sicher?", Tims tiefblaue Augen gleiten wieder über mein Gesicht und verharren an meinen Augen. Schluckend nicke ich und möchte seinem Blick ausweichen, aber ich kann nicht. Seine Besorgnis, mein Rennen, seine Eltern, meine Mutter, sein Tattoo, meine bröckelnde Fassade der abweisenden Art, unser Moment am Grab, das ist alles zu viel für mich. Mit Mühe schaffe ich es, mich aus dem fesselnden Augenblick zu befreien und einen Schritt zurückzutreten. „Alles okay", presse ich hervor und stürme wieder aus der Küche, genauso schnell, wie ich gekommen bin. An diesem Abend wage ich es nicht mehr, mein Zimmer zu verlassen. Zu komisch wäre die Situation, jetzt Tim zu begegnen. Ihm gegenüber zu treten, nachdem ich so panisch zu ihm gelaufen bin. Ich bin zu ihm gerannt! Wie ... ich weiß nicht einmal, wie ich das finden soll! Peinlich ist es nicht, es ist normal. Aber normal für ein Paar, für Liebende, nicht für ein Expaar. Nur sind wir das? Einzig alleine ein Expaar? Nein, das wissen wir beide. Aber was sind wir dann? Bin ich das für Tim, was ich meine, für ihn zu sein? Ist es so, wie ich denke? Hat sich bei ihm niemals etwas geändert? Bedeute ich ihm noch so viel, wie ich es damals getan habe? Habe ich ihm damals etwas bedeutet? Und dann springe ich über meinen Schatten. Vorsichtig gehe ich zu meinen ganzen Kartons, die ich noch nicht ausgepackt habe. Es dauert ewig, jeden einzelnen Karton hochzuheben und zu schauen, ob nicht nur meine Bücher da drinnen gestapelt sind. Bei dem untersten, in dem ich nicht nur alle Romane von Colleen Hoover finde, entdecke ich die kleine Kiste. Meine Erinnerungskiste. Seit elf Jahren habe ich dieses verdammte Ding nicht mehr geöffnet und ich hätte nicht angenommen, dass ich es jemals wieder tun würde. Nur irgendwie musste ich meine Kiste mit nach Braunschweig nehmen, ein Stück weit ... mit nach Hause. Mit zittrigen Händen schiebe ich die Zeitschriften und Notizhefte weg, bis ich die kleine schwarze Schatulle herausheben kann. Sie wiegt schwer in meiner Hand, viel mehr, als da eigentlich drinnen ist.
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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...