Kapitel vierzig

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Seufzend hänge ich meine nasse Winterjacke über unseren Jackenständer im Flur, an dem bisher nur die ganzen dünnen Jeans- und Lederjacken hängen sowie Tims gesteppte Jacke. Ich grinse. Also ist er zuhause. So leise wie möglich schlüpfe ich aus meinen schwarzen Boots und stelle sie neben meine Turnschuhe, dann schleiche ich über das Parkett in die Küche. Tim summt zu der Musik mit, wenn mich nicht alles täuscht Last Christmas, und bestreicht irgendwelche Teigfetzen – vermutlich Plätzchen – mit einem Sirup, bei dem ich nicht recht weiß, wozu der gut ist. „Hey", ich erhebe meine Stimme etwas um Wham zu übertönen; Tim dreht sich ertappt zu mir. „Hey", erwidert er lächelnd, doch seine Wangen färben sich ein wenig dunkler, vielleicht sieht es aber auch nur wegen des Mehls so aus. Schmunzelnd komme ich zu ihm, darauf bedacht, nichts vom dem Backzeug anzufassen, wobei Tim mir lachend einen Strich durch die Rechnung macht: Er tunkt seinen Finger in diesen Sirup und streift einmal durch mein Gesicht. Sofort verziehe ich das Gesicht und will erst mit meinem Ärmel über mein Gesicht wischen, aber mein neuer Hoodie ist mir dann doch zu schade dafür. Stattdessen lächele ich Tim charmant an und wische meine Nase an seinem weißen Sweatshirt ab, er lacht dunkel. „Du wolltest es nicht anders", grinse ich ihn frech an, Tim zieht die Augenbrauen hoch. „Na ja, dann habe ich halt ein romantisches Andenken an unser erstes Plätzchenbacken", er zuckt lässig mit den Schultern und wendet sich mit diesem Plastikpinsel wieder dem Teig zu, der glänzt. „Erstens, Freundchen: Ich backe nicht mit. Zweitens: Das ist nicht romantisch. Drittens: Wieso erstes Backen? Gibt es noch weitere?", necke ich Tim, der in der Bewegung inne hält. Für eine Sekunde wirkt er geschockt, dann lacht er. „Du bist schon wieder ziemlich frech", grinst er mich an und legt den Pinsel bei Seite, stattdessen legt er seine Arme um meine Hüfte, um mich näher an sich zu ziehen. „Ehrlich", verbessere ich ihn, Tim seufzt. „Nervig und äußerst gemein. Du weißt, dass ich jedes Mal zusammenzucke, wenn du in welcher Form auch immer ankündigst, mich zu verlassen", murmelt Tim und streicht mir durch die Haare, ich schmunzele. „Tja, wenn du so in meinem Haar herumfummelst ...", deute ich an und tippe Tim auf die Brust, er lacht wieder. Es ist das erste Mal seit Monaten, dass er so viel lacht. Dass er allgemein öfter lacht. Und verdammt, so kitschig das auch klingen mag: Ich liebe sein Lachen. „Hm, na gut, dann fummele ich ab Montag in Lucys Haaren herum", Tim grinst mich frech an, in seinen Augen funkelt eine Herausforderung auf. Diesmal bin ich es, deren Lippen trocken werden. „Mach halt", knurre ich und genau das ist das Problem: Ich versuche, es übertrieben darzustellen, aber insgeheim habe ich wirklich Angst, dass etwas passiert. Aber ich schätze, das ist der Haken, wenn ich mit jemandem zusammen bin, der meine feministische und gleichberechtigte Ader so sehr schätzt und unterstützt, dass er mir die gemeinen Sprüche zurück an den Kopf knallt. „Sorry, du siehst so niedlich aus, wenn du wütend bist", Tims Blicke wandern auf meine Nase, die ich leider wirklich gerne mal kräusele, dabei will ich alles andere als niedlich aussehen. „Ha ha, halt die Klappe und back weiter", ich winde mich aus seinem Griff und grinse ihn an, Tim seufzt und bestreicht wirklich die letzten Plätzchen. Skeptisch mustere ich die verschiedenen Formen aus Weihnachtsbäumen, Geschenken und Schneemännern. „Wie hast du bisher Weihnachten gefeiert?", fragt Tim auf einmal, während er das Blech anhebt und in den Ofen schiebt, den er mit dem Fuß aufzieht. Ich weiß sofort, weshalb er fragt. Weil wir quasi alles und nichts übereinander wissen. Es ist so ungewohnt, seine Kindheit zu kennen, seine Eltern, seine Freunde. Seine Hobbys, seine Leidenschaften, seine tiefsten Geheimnisse. Ihn. Ihn ganz in Person. Aber banale Dinge, wie er seine letzten Jahre, seine Jugend, sein Erwachsensein verbracht hat, das weiß ich nicht. „Entspannt? Wir sind nie zur Kirche gegangen, meine Mutter und ich. Wir haben immer gemeinsam versucht, etwas zu kochen ohne die Küche anzuzünden, meistens gab es Tacos, Quesadillas oder Spaghetti?", ich schlinge ein wenig die Arme um mich. Gerade jetzt in der Adventszeit vermisse ich meine Mutter unendlich, es ist das erste Weihnachten ohne sie. Es wird das erste Silvester ohne sie, das erste Jahr. Und das, obwohl sie nicht einmal tot ist. Vielleicht könnte ich mich mit dem Gedanken sogar besser anfreunden, so schlimm das klingt. Aber wüsste ich, dass es ihr da, wo sie ist, gut ginge, ginge es mir besser. Und so? Ich weiß nicht einmal, ob es ihr gut geht. Ob sie lebt. Seit vier Monaten weiß ich es nicht. „Dann machen wir etwas davon, wenn du willst", Tim richtet sich auf, nachdem er die Temperatur eingestellt hat. „Ach, keine Ahnung. Was sind denn eure Traditionen?", ich grinse ihn leicht an, ehe ich locker nach hinten auf die Arbeitsplatte springe, auf der hoffentlich kein Teig klebt. Sofort reagiert Tim auf meine Bewegung und schiebt sich sanft zwischen meine Beine. Grinsend stützt er seine breiten Arme links und rechts von mir ab und blickt mir tief in die Augen, ich erwidere den Blick energisch. „Keine Ahnung, das ändert sich von Jahr zu Jahr. Ich meine, wir wohnen auch das erste Mal an Weihnachten zusammen. Aber früher war es so, da sind Maik und Luna oft zu ihren Eltern gefahren oder wir haben mal zu dritt Heiligabend verbracht ...", Tim schaut ratlos, was genau er mir jetzt antworten soll. „Keine Traditionen, an die ich mich jetzt auch halten soll?", grinse ich ihn an, wobei ich meine Beine frech um ihn lege und ihn somit näher an mich ziehe. „Doch. Ich ... ich bin jedes Weihnachten bei meinen Eltern. Mit Blumen und heißer weißer Schokolade", flüstert Tim, ich löse meine Beine wieder von ihm. Fragend sieht er mich an, doch ich rutsche bereits von der Arbeitsplatte und ihm direkt vor die Füße, sodass ich ihn viel besser umarmen kann. Schweigend breite ich meine Arme aus und schlinge sie um meinen Freund, sodass ich mich fast auf die Zehnspitzen stellen muss; er lächelt hörbar an meinen Hals und vergräbt seinen Kopf in meinen Haaren. „Ich begleite dich natürlich. Aber nur wenn die beiden nichts gegen einen unfestlichen Hoodie haben", murmele ich in seine Halsbeuge, Tim lacht leise und zieht mich fester an sich, sodass ich fast zerdrückt werde. „Nein, sie haben alles an dir geliebt. Du warst die Schwiegertochter, die sie immer wollten." „Schwiegertochter? Seid ihr verlobt?!" Ich blinzele und schaue leicht entsetzt über Tims Schulter in den Flur. Maik lehnt mit offener Jacke und Mütze auf dem Kopf in der Tür, hinter ihm quetscht sich Luna durch die Tür und reckt ihre rote Nase von der Kälte in die Luft, um danach gleich „Plätzchen!" zu rufen. „Nein, auf keinen Fall!", rufe ich auch und löse mich von Tim, er dreht sich räuspernd um. „Äh nein", stimmt er mir zu, dabei wirft er Maik einen warnenden Blick zu. Hoffentlich haben die beiden nicht einmal darüber gesprochen, dann habe ich schon das dringende Bedürfnis, zu schreien oder mich zu übergeben. Eine Hochzeit wäre nichts für mich – nicht einmal mit Tim. „Nein, keine Plätzchen oder nein, nicht verlobt?", fragt Luna spitz, als sie ihren Schal abzieht und dabei fast Maik ins Gesicht haut, ich muss mir ein Grinsen verkneifen. „Verlobt. Plätzchen gibt es natürlich", Tim grinst stolz neben mir und tritt einen Schritt bei Seite, sodass wir einen Blick auf das Blech im warmen Ofen werfen können: langsam werden diese Teigdinger braun. Und es nervt mich, dass ich schon wieder Lust darauf hätte, obwohl sie so süß sind – und das nur, weil Tim sie gemacht hat! „Genial, wir haben auch noch Punsch mitgebracht", Luna schiebt sich gut gelaunt an mir vorbei, um einen Blick in den Ofen zu werfen und grinst mich vorfreudig an. „Haargenau, wir müssen mit euch reden", Maik räuspert sich und bückt sich dann, um seine Schuhe aufzuknoten. In der Zeit werfe ich Tim einen fragenden Blick zu, aber er schaut nur genauso verwirrt zurück, ehe er sich abwendet und die nächsten zwanzig Minuten um seine Plätzchen kümmert, um sie mit Zuckerguss, Perlen und Streuseln zu verschönern, wobei Luna ihm begeistert hilft; Maik kocht lieber den Punsch auf und kippt noch etwas hinzu, während ich gähnend die Gläser aus dem Hängeschrank hole.

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