Kapitel siebenundvierzig

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„Du kannst nicht deinen Brautkleidkauf verschieben!", zische ich Luna zu und nehme ihr das Messer aus der Hand, mit dem sie sich eine Scheibe Brot abschneidet. Als ich heute von der Arbeit nach Hause kam, habe ich ihr sofort von dem Anruf erzählt – und meiner Hoffnung, dass es meine Mutter gewesen sein könnte. „Ich verschiebe ihn nicht, ich fahre nur später hin", seufzt sie und greift nach dem Messer, das ich bei Seite lege. „Luna, im Ernst. Du planst seit Wochen mit deiner Mutter, Maiks Mutter und mir das Kleid zu kaufen. Das ist echt ernst und du willst das alles -", setze ich an. Es war ein verdammter Fehler, Luna zu fragen, ob wir die Tage nach Bad Harzburg fahren könnten. Natürlich ist es nur rund eine halbe Stunde Fahrt, die ich vor mir habe, aber ich brauche jemanden, der sich dort verdammt gut auskennt, wenn ich einen Anruf aus der Telefonzelle nachverfolgen will. Alleine durch diesen Kurort zu stolpern und lauter Senioren zu begegnen, das würde auch nichts bringen. „Oh doch, alles gut. Beziehungsweise nicht, schließlich geht es um deine Mutter", betont sie das letzte Wort, „und damit steht es an erster Stelle. Unsere Mütter werden es verstehen, wenn ich etwas später rüberfahre, okay? Ganz abgesehen davon habe ich frei deswegen; es ist also genug Zeit, ganz Harzburg, von mir aus auch den ganzen Harz, auf den Kopf zu stellen." „Und jetzt halt die Klappe und bedanke dich später", grinst Luna mich frech an, schiebt mich bei Seite und schnappt sich das schwarze Messer: „Auch eine Scheibe?" Ohne meine Antwort abzuwarten, schneidet sie mir auch etwas ab und schlendert dann an mir vorbei zum Kühlschrank, um sich Butter und Käse zu holen. Fassungslos starre ich ihren Rücken an, auf dem ein feministischer Spruch auf ihrem blauen Sweatshirt steht. „Nein, sag nichts, das ist wirklich okay, wir fahren einfach mittags rüber, schauen uns um, holen uns was zu essen und fahren dann shoppen", ohne sich umzudrehen, weiß Luna, dass ich den Mund auf und wieder zu klappe. Aus Protest verschränke ich die Arme und lehne mich gegen die Arbeitsplatte, als sie mit den Dosen zurückkehrt. „Klingt so, als würdest du mit Burgern im Magen dein Kleid anprobieren wollen", grinse ich sie an, meine beste Freundin nickt: „Jep, schließlich essen wir an unserer Trauung auch Burger." „Ha ha", ich knuffe sie in die Seite, sodass ihr fast das Frischkäsetöpfchen herunterfällt. „Oh doch. Und du solltest auch etwas anprobieren", bleibt sie genauso stur, wie ich es sonst immer bin. Schmunzelnd löse ich mich und strecke mich, um uns noch Teller zu holen. „In der Vorratskammer gab es kein Bier mehr", Maik kommt zu uns in die Küche, hauptsächlich um zu schmollen. „Schlechter Tag?", hake ich nach und reiche ihm auch einen Teller, er nimmt ihn murrend. Für ihn die Einladung, uns den ganzen Abend lang von seinem Arbeitstag zu erzählen, angefangen damit, dass der Postbote sein Fahrrad gegen Maiks Auto fallen gelassen hat. Während Maik erzählt, schmieren wir uns unsere Brote, mixen uns irgendwelche Schorlen zusammen und setzen uns zu dritt an den Tisch – die Routine seit Tim den neuen Fall angenommen hat. Es vergehen kein Abend und kein Morgen mehr, an dem wir vollständig sind – und es fehlt immer nur er. Wir kommentieren es selten, aber es fühlt sich ganz einfach komisch an; ein wenig wie bei meinem Einzug, bei dem Luna und Maik sich öfter zwischen Tim und mir entscheiden mussten. „... dabei bist du doch der beste Architekt von ganz Braunschweig", neckt Luna ihren Verlobten und knufft Maik wie ein Baby in die Wange, er streckt ihr die Zunge heraus. „Das habe ich meinem Chef auch gesagt", witzelt er dann, ich verdrehe die Augen spaßeshalber und nehme noch einen Schluck von meinem Ki-Ba. „Spinner, so selbstbewusst und vorlaut bist du nicht", rügt Luna ihn auch und zwinkert mir zu, ich grinse in mein Glas. „Oh doch, und ich bin noch viel selbstbewusster, wenn ich weiß, dass ich dich jede Nacht zum St-", säuselt Maik übertrieben unschuldig, Luna tritt ihn heftig gegen das Bein: „Aua!" „Dafür kriege ich dich jeden Abend zum Schreien", sie zuckt lässig mit den Schultern und will von ihrer Brotscheibe abbeißen, ihr Freund kitzelt sie, sodass sie aufkreischt und lacht. Maik ist sofort angespornt und rutscht noch näher an sie, sodass der Tisch zu wackeln beginnt, die Gläser klackern auf dem Holztisch und mein Messer vom Teller fällt. Doch die beiden registrieren es nicht einmal, sondern ärgern sich weiterhin wie Kindergartenkinder. Das Klicken beim Herumdrehen eines Haustürschlüssels ist kaum zu hören, aber ich spüre deutlich, wie mein Herz einen blöden Stolperer macht. Doch ich stehe nicht auf, dafür bin ich zu faul und zu stolz, sondern warte, bis Tim unterkühlt mit rotem Gesicht und zusammengepressten Lippen im Türrahmen erscheint. „Da bist du ja, Mann", ruft Maik über die Schulter; Luna nutzt den Moment und schnappt sich die Pfeffermühle, um sie über seinem Kopf anzukurbeln. „Ja, entschuldigt, dass es so spät wurde", murmelt Tim und kommt an den Tisch. Sein Blick streift mich warm, doch ich bekomme eine Gänsehaut, als ich mich zu ihm drehe. „Hey", begrüßt er mich leise, dabei streifen seine kalten Finger meinen Ärmel, mit dem ich mich auf dem Tisch abstütze. „Hey", erwidere ich meinem Freund, der als Einziger nichts von dem mysteriösen Anruf weiß. Ich beiße mir auf die Zunge, bis ich meine Adern zu spüren meine, dann drehe ich mich lieber zu dem Paar, das nach wie vor herumalbert. „Was habe ich verpasst?", flüstert Tim mir zu, ich spüre die Wärme seines Körpers über den Tisch hinweg. „Das Vorspiel der beiden?", grinse ich sowohl ihn als auch meine Freunde frech an; Luna streckt mir die Zunge heraus und Maik zeigt mir den Mittelfinger, während Tim nur leise lacht. „Tut mir leid, dass ich zu unserem nicht da war", raunt Tim leiser, seine Mundwinkel ziehen sich nach oben und dennoch liegt etwas Fremdes in seinem Blick. „Hm, ich kam bestens alleine zurecht", entgegne ich ihm dafür nur und will mich abwenden, aber sein intensiver Blick hält mich in unserem Moment gefangen. „Alleine alleine oder alleine zusammen im Büro?", hakt Tim nach, seine Stimme klingt rauer, als hätte er da immer noch diese kleine Befürchtung, als würde ich ihn betrügen. Dabei war er derjenige – wobei es fast typischer für mein Ego wäre, würde ich mich rächen wollen, worüber ich als Jugendliche tatsächlich nachgedacht habe. Aber es wirklich umzusetzen, das wäre keine Liebe, sondern nur Trotz. „Suche es dir aus, Tim", brumme ich und lasse meinen Blick auf seine Lippen gleiten, die er zusammenkneift, dann grinst er. „Wie du wünschst, dann teile ich dir mein Kopfkino nicht mit", schmunzelt er verschmitzt und steht wieder auf, dabei legt er sein Handy auf die Tischplatte. Umgedreht. Ein Stirnrunzeln kann ich nicht unterdrücken, wenn ich weiß, dass er es immer mit dem Display nach oben ablegt – schon alleine, damit er immer abrufbereit ist und den Notfall sofort sieht, falls seine Kollegen nur eine SMS schicken. Doch ihn darauf hinweisen will ich auch nicht, zumal es nur ein Versehen sein könnte; also betrachte ich nur seine weiße Hülle mit den Kratzern, bis er aus der Küchennische mit einem Glas Cola zurückkehrt. „Moment, das heißt, du fährst jetzt nochmal los?", ich nicke auf sein feuchtes Glas, an dem das Wasser hinunterläuft, als er es auf einer – meiner – Serviette abstellt. „Ich muss, Em", stöhnt er und lehnt sich an seine knarzende Stuhllehne, „Gott, ich würde so viel lieber bei dir bleiben und einfach nur in deinem Bett schlafen." Ich ziehe die Augenbrauen nach oben, sodass wir beide lächeln müssen. „Schon klar, du würdest nicht mit mir kuscheln, sondern aus Prinzip mit Taschenlampe lesen und extra laut die Seiten umblättern", nuschelt Tim, als er wieder einen Schluck von dem scheinbar genug koffeinhaltigen Getränk nimmt. „Absolut richtig, aber jetzt halt die Klappe und iss besser noch etwas, bevor du wieder auf Achse gehst. Wie steht es eigentlich, habt ihr schon Verdächtige?", ich stütze mich auf meinen Armen ab und mustere meinen übermüdeten Freund, der aussieht, als würde er am liebsten seinen Kopf auf die Tischplatte schlagen. Die beiden am anderen Ende des Tischs bekommen nichts davon mit, was auch immer sie gerade tun, wozu sie sich Servierten ins Gesicht werfen und dann beide in Gelächter ausbrechen. Ich glaube, der Nachteil, wenn man mit den beiden befreundet ist, ist, dass man immer das Gefühl hat, mit kindischen betrunken Jugendlichen abzuhängen – und die heiraten auch noch bald. „Ich habe schon mit Lucy gegessen", winkt Tim ab, kurz gleitet unser beider Blick zu dem umgedrehten Handy, vorsichtig hebt er die Hand. Unsicher legen sich seine Finger über die helle Hülle und umschließen sie, ich schlucke. „Und, wie war es?", ich will nicht eifersüchtig klingen. Eigentlich habe ich kein Problem damit, wenn ein Mann und eine Frau befreundet sind, im Gegenteil, manchmal kann das sogar weniger kompliziert sein wie mit Sid und mir; aber ich verheimliche nichts davon meinem Partner. Ganz abgesehen davon, ich weiß nicht, irgendwie machen mich auch die Anzeichen der letzten Tage nervös, was mich mich primitiv, kindisch und unreif fühlen lässt. „Gut, ich wusste gar nicht mehr, dass mir Bratwurst und diese fettigen Pommes schmecken. Kennst du diesen rot-gelben Wagen, der überall herumfährt? Sogar in Hannover und Goslar war dieser Kerl schon", Tim schüttelt vorsichtig lächelnd den Kopf. „Klar, meine Oma kannte sogar dessen Vater, der hat das damals schon gemacht", erwidere ich, gegen meinen Willen muss ich auch grinsen. „Ist das euer Ernst? Ihr seht euch eine Viertelstunde am Tag und redet über so etwas?", mischt Maik sich sichtlich amüsiert ein, dann klopft er Tim aufmunternd auf den Rücken. „Wir gehen jetzt ins Wohnzimmer und schauen Netflix", verkündet Luna einfach, dann schnappt sie sich ihren Teller und eilt damit in die Küche. Sofort höre ich das Knistern meiner Chipstüte, die ich mir am letzten Wochenende im Vorrat gekauft habe. „Ah-ah, nicht mit meinen Chips!", versuche ich die beiden noch zu stoppen, doch Luna wirft Maik die Tüte zu; er flieht sofort damit nach draußen und lacht laut im Flur, sodass auch Eisbeins wieder Bescheid wissen müssen. „Sperrt dann wenigstens bei euch ab!", ruft Tim hinterher, als Luna kichernd die Tür hinter sich zuwirft und dann über den Flur zu eilen scheint. „Okay, das ist traurig, dass die beiden denken, uns alleine lassen zu müssen", seufze ich und ziehe meine Beine an mich, um meinen Kopf auf meinen Knien abzulegen und auf den Tisch zu schauen. „Hast du in den letzten Tagen irgendwie gesagt, dass du mich ... vermisst?", hakt Tim sanft nach, ich bin mir nicht ganz sicher, ob es Hoffnung ist, oder er noch immer in seiner Befragung steckt. „Nö", ich lege den Kopf schief, um ihn anzusehen und grinse frech, er schmunzelt: „Natürlich nicht." „Aber ich habe dich sehr vermisst, Em. Es bringt mich um, dass ...", spricht er langsam weiter, um dann innezuhalten. Seine Augenbrauen ziehen sich gequält zusammen, mit seinen langen Wimpern blinzelt er öfter bis ich es nicht mehr zählen kann. „Dass?" „Dass ... was wäre, wenn es da eine Sache gäbe?", fragt er heiser, vorsichtig lehnt er sich nach vorne und stützt sich mit den Ellenbogen auf seinem Schoß ab. „Was für eine Sache, Tim?", flüstere ich, er schließt die Augen. „Okay, was wäre wenn ... wenn da etwas wäre. Sagen wir einfach, die wichtigste Person in deinem Leben ... hat etwas getan, etwas getan, das sie nicht hätte tun sollen ... würdest du es wissen wollen?", fragt er dann heiser. Mein Herz macht einen Satz, dann bleibt es für meinen Geschmack zu lange stehen und irgendwie habe ich trotzdem das Gefühl, dass es gegen meinen Brustkorb hämmert und meine Kette in Schwingungen versetzt. Auf einmal fühlt sich Nicoles Ring schwer an meiner Brust an; für seine Sekunde habe ich das Bedürfnis, ihn mir vom Hals zu reißen. „Ja, klar", ich sehe ihn an. Scanne seine Augen, fange sie mit meinem Blick ein und versuche mein pochendes Herz zu ignorieren, als er meinem intensiven Blick stand hält. Das Blau seiner Augen bleibt ruhig, kein fesselnder Sturm, der den ganzen Ozean mitreißt, einfach nur ein abblockendes Blau. Weil er versucht zu verbergen, was passiert ist. Was er getan haben muss. Denn auch wenn ich es nicht zugeben will, die wichtigste Person in meinem Leben – nach mir – ist vermutlich Tim. „Em ...", murmelt Tim unsicher, seine Hände greifen über den Tisch nach meinen, doch ich stülpe hastig die Ärmel meines schwarzen Hoodies über meine Handgelenke. „Du kannst so etwas nicht andeuten und mir dann nicht erzählen", ich schüttele den Kopf und sehe ihn fest an, Tim nickt. „Ich weiß, es ist ...", er holt Luft und – sein Handy vibriert. „Na los, geh dran", brumme ich und nehme sein blödes Handy ins Visier. Ich würde über hundert Euro verwetten, dass es Lucy ist, die ihm Neuigkeiten zum Fall schickt, nicht Miguel. Falls es überhaupt der Fall ist. „Du bist jetzt wichtiger", Tim steht auf und kniet sich vor mir in der Hocke hin, diesmal greift er wirklich nach meinen Händen. „Em, ich verspreche dir, dass -", setzt er an, doch das Holz unter dem summenden Handy brummt wieder laut. Hastig befreie ich meine Hände aus seinen und greife nach seinem Handy, das ganz warm gelaufen ist. Ohne es wirklich zu wollen, vielleicht aber auch ohne dem Ganzen wirklich widerstehen zu können, drehe ich es einmal um und starre auf den Sperrbildschirm. „Du musst ganz schnell kommen", lese ich Lucys Nachricht im Teaser vor, danach hat sie ein Foto geschickt, das ich nicht öffnen kann. „Verdammt, Em, ich will dich nicht so stehen lassen", Tim greift eilig nach seinem Smartphone und stopftes sich – ohne das Foto anzugucken – in die Hosentasche. „Wie denn?", frage ich heiserer, als es beabsichtigt war. „Mit dieser Frage. Und ich hasse es, dass wir uns so wenig sehen, aber ... aber das wird wieder anders, du wirst es bald verstehen", spricht er noch immer kryptisch, was mich nervös macht. Was zur Hölle meint er? Mit diesen Geheimnissen, diesen Fragen und dieser geheimnisvollen Art? So spricht eigentlich niemand, der gleich seine Affäre mit seiner Kollegin beichtet. Eigentlich jedenfalls. „Warum wird es anders, Tim? Was ist los?", neben meiner Verwirrung steigt auch Wut in mir auf, dass er so wissend und bevormundend klingt, auch wenn ich es ein Stück weit verstehe. Vielleicht hätte er es mir sogar gesagt, wenn Lucy uns nicht unterbrochen hätte. Aber auch nur vielleicht. „Em, ich kann es dir nicht jetzt erklären, es tut mir leid, das würde dich jetzt zu sehr aufwühlen und so will ich dich nicht hierlassen, außerdem ...", Tim schüttelt den Kopf. „Ich kann selbst entscheiden, was mich aufwühlt. Und ich wüsste jetzt wirklich gerne -", setze ich an und stehe auf, um die Arme zu verschränken und an Tim heranzutreten. Doch er richtet sich ebenfalls auf und beugt sich zu mir vor. Weniger wie ein Kuss, mehr wie ein Ersticken meiner Worte, presst er seine Lippen auf meine und umfasst meine Schultern. „Vertrau mir bitte, Em", murmelt er gegen meinen Mund und streift wieder über meine Schultern und Arme. „Tim, du weißt, warum es mir jetzt schwerfällt ...", ich lehne meine Stirn gegen seine, sodass sich unsere Lippen wieder ein paar Millimeter voneinander entfernen, Tim seufzt auf. „Oh Gott, das denkst du?", flüstert er heiser und lässt seine Arme sinken. Scheiße. Er ist ernsthaft verletzt, dass ich das gesagt habe. Was auch heißt, dass er ein ganz anderes Geheimnis hat. Vielleicht war ich auch auf dem Holzweg und es ist eine Überraschung oder was auch immer. Aber wieso hat er dann gesagt, er hätte etwas wirklich Schlimmes getan? Oder hat er bei einem Einsatz etwas getan? Vielleicht hat er an dem Tag die Leiche erschossen. Genau, deswegen hat er angerufen und deswegen hat er solche Geheimnisse mit Lucy. Weil sie es gesehen hat. Das muss es sein. So ist es zu erklären. Und deswegen kann er nicht schlafen, schärfe ich mir ein. Etwas anderes darf es nicht sein. Obwohl das so schlimm wäre; für ihn, nicht für mich. „Tim, stopp, lass es mich erklären", ich streift mit meiner Hand über sein Kinn, seinen Hals runter bis zur Kette, die ich durch sein Shirt spüren kann. Widerwillig öffnet er die Augen, hört mir aber zu. „Ich ... wenn du ... wenn du jemanden beim Einsatz ... erwischt hast, dann ...", ich sehe ihn fragend an. Er sieht mich abwartend an, flehend, dass ich meinen Satz vervollständige. „Was wäre dann?", fragt er heiser, sein Blick durchdringt mich und versetzt mein Herz in einen brennenden Schmerz. Doch bevor ich es schaffe, meine klebenden Lippen zu öffnen, klingelt sein Handy erneut. Schwer atmend löst Tim seinen Blick von mir, stattdessen zieht er doch sein Handy aus der Hosentasche und geht dran: „Was gibt es, Lucy?" Im Hintergrund höre ich ihre aufgeregte Stimme reden, aber sie spricht zu schnell, als dass ich nur ein Wort verstehen könnte. „Okay, ja, verstehe ich. Sorry, ich bin sofort da", Tim unterbricht sie kein einziges Mal. Er macht nicht einmal irgendein Geräusch in ihrer langen Rede, sodass sich mein Verdacht bestätigt, dass er mit ihr ein Geheimnis vor mir hütet. Denn irgendwie würde er doch ihren Monolog kommentieren, wäre es ihm nicht unangenehm vor mir zu reden, oder? „Ich muss ...", murmelt er leise, als er aufgelegt hat. Gedankenverloren hebe ich den Kopf und sehe ihn durchdringend an: „Klar, ich weiß." „Okay, dann ... dann reden wir morgen, okay?", vergewissert Tim sich heiser – fast kleinlaut –, dann dreht er sich zur Tür und schlüpft hinaus. Mit verschränkten Armen sehe ich ihm nach, wie krampfhaft seine Finger die Tür festhalten, um sie hinter sich zufallen zu lassen. Als der kleine Knall vorbei ist, höre ich, wie er hastig seine Jacke zu suchen scheint. Noch hätte ich die Zeit, zu ihm nach draußen zu gehen und ihn irgendwie zu verabschieden, aber ich wüsste nicht genau wie. Also warte ich mit pochendem Herzen, wie er seine Schuhe anzuziehen scheint, irgendwohin stolpert und den Safe im Flur aufschließt, in dem seine Pistole untergebracht ist. Still lausche ich, wie er sich den Gürtel umschnallt und dann nach den Schlüsseln greift – ich wende mich erst von der Zimmertür ab, als ich die Haustür ins Schloss fallen höre.

HeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt