Kapitel vierunddreißig

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Gedankenverloren drehe ich meinen Kaffeebecher, in dem sich die berühmte heiße weiße Schokolade befindet, die Tim mir heute Früh gemacht hat, in den kalten Händen und schaue zu Sid, der an seinem Plastikbecher nippt. Auch ihm scheint inzwischen verdammt kalt zu sein, schließlich haucht er immer in seine freie Hand, mit der er nicht den kleinen Becher festhält. „Verdammt, wieso machen wir unsere Kaffeepause auch draußen?", rege ich mich auf und trete von einem Bein auf das andere, mein Kinn dicht in meinem Schal vergraben. „Sagt die, die immer noch keine Stiefel trägt", neckt Sid mich und nickt auf meine schwarzen Chucks, die ich immer noch trage. „Ha ha, du verstehst das nicht. Mir ist trotzdem nicht an den Beinen kalt", seufze ich und nehme demonstrativ einen Schluck von meinem weißen Kakao, der wieder etwas Wärme durch meinen kalten Körper strömen lässt. „Warte, kannst du mal kurz meinen Kaffee halten?", bevor ich überhaupt antworten kann, hält mir mein einziger Vertrauter in diesem Verlag hier seinen dampfenden Becher hin, damit er in seiner Jackentasche wühlen kann, wobei es so klingt, als hätte er darin fünftausend leere Schokoriegelpackungen deponiert. „Eigentlich nein", schmunzele ich und genieße es aber, wie heiß sich der Becher zwischen meinen roten Fingern anfühlt. „Pech, ich muss meine geniale Mütze aufsetzen", nuschelt Sid in seinen Bart, ehe er mich mit gut gelaunten bernsteinfarbenen Augen anfunkelt, sodass ich verwirrt schaue. „Na, lies mal", erwartungsvoll stupst Sid mich an und beißt sich auf die blauen Lippen, die fast von seinem Bart verdeckt werden. Als ich den Kopf hebe, bleibt mit der Mund offen stehen. So sieht ein zukünftiger Vater aus steht in einer geschwungen kitschigen Schrift da, darunter ist ein Pfeil auf Sids breite Stirn. „Du ... wirst Vater?!", fassungslos starre ich ihn noch weiterhin an, komplett überfordert, was ich tun soll. „Ja, Mann! Sie hat es mir heute Früh gesagt! Mit der Mütze", Sid strahlt nur so über seine Freundin, von der er mir seit Wochen verspricht, sie mir mal vorzustellen. „Glückwunsch, du Spinner. Auch wenn ich es dir übelnehme, falls du in Elternzeit gehst", höre ich mich grinsend sagen, da lacht Sid schon und umarmt mich einfach zuerst. Ich hätte ihn definitiv auch gedrückt, keine Frage, nur bin ich wirklich nicht diese Art von Mensch, die vor Freude dazu neigt, jemandem um den Hals zu fallen. „Freue dich erst mal für mich!", lacht Sid und klopft mir auf dem Rücken, wie es vor allem unter Männern üblich ist, ich schmunzele. Seufzend klopfe ich ihm ebenfalls auf den breiten Rücken und präge mir den Moment ganz genau ein – das erste Baby in meinem Freundeskreis. Dann noch die Verlobung von Luna und Maik. Es geht los, das richtige Erwachsensein, der richtige Ernst. Bald. So bald. Und plötzlich ist da dieser Wehmut, der er mich ergreift. Kurz umarme ich Sid nochmal fester, ehe ich meinen Kumpel loslasse. „He, schau nicht so, als würde ich beerdigt werden. Dann wirst du nicht die Patentante", scherzhaft knufft Sid mich in meinen Jackenärmel und grinst mich breit an, breiter als er je gelächelt hat. Verdammt. Ich sollte mich für einen guten Freund wie ihn freuen und nicht so egoistisch sein, alles in Frage zu stellen. Außerdem will ich das alles nicht, Kinder und heiraten und den ganzen anderen Bilderbuchkram. Und trotzdem kommt da dieser Gedanke, wieso die anderen das alle tun – und ich nicht. Es ist total bescheuert, das weiß ich selber. „Ich würde mich geehrt fühlen, das weißt du, nur weiß ich nicht, ob ich so viel Verantwortung für ein Baby übernehmen kann. Ich ... das ... es wird ein schreiendes, quängelendes Etwas sein, bei dem man keine Sekunde mehr Zeit für sich hat", gebe ich zerknirscht zu, weil ich weiß, dass Sid nicht eingeschnappt sein wird; ist er auch nicht, er lacht wie immer tief und rückt seine babyblaue Mütze zurecht. „So schlimm wird es schon nicht. Und als ob du keine Kinder willst mit deinem Tim", diesmal mustert Sid mich ungläubig, mehr noch, schon fast schockiert. Dabei hat er selbst bis vor wenigen Wochen nicht einmal davon gesprochen, eine eigene Familie zu gründen, sondern eher, in welcher Bar wir mal wieder etwas trinken gehen sollten. „He, das ... zählt nicht. Ich meine, wir sind erst seit einem Monat wieder zusammen", protestiere ich und schüttele vehement den Kopf, was Sid nur noch mehr lachen lässt. Ganz abgesehen davon: Nein. Ich und Kinder! Aber das sage ich jetzt mal besser nicht laut. „Niedlich. Und dabei habt ihr noch nicht einmal gevögelt, oder?", fragt er viel zu laut, sodass ich mich beherrschen muss, ihm nicht meinen harten Becher über den Kopf zu ziehen. „Psht! Woher weißt du das überhaupt?", zur Strafe verpasse ich ihm einen energischen Schlag auf den Arm, sodass er sich ein wenig Kaffee über seine Schuhe schüttet. „Emma? Hier sind Sie", ertönt Frau Maybachs Stimme hinter mir. Sid lacht. Ich atme tief durch. Das ist mal wieder typisch, so viel Pech kann nur ich haben. Langsam zähle ich bis drei, bis ich mich überhaupt mit einem möglichst echten Lächeln zu meiner Chefin umdrehe. Im Gegensatz zu mir schaut sie ernsthaft amüsiert, ihre faltigen Wangen haben einen hübschen rosa Ton von der Kälte oder ihrem Spaß, etwas über mein Privatleben zu erfahren, dazu ruhen ihre bunten Haare wie ein Vorhang auf dem Pelz ihres Mantel, was sie fast wie eine imposante Schneekönigin wirken lässt. Obwohl sie in den letzten Monaten um einiges gealtert ist, sieht sie noch immer deutlich jünger aus als sie eigentlich ist. Und noch immer wie eine verdammt starke Frau, vor der ich einen abgebrachten Respekt habe. „Ja, kann ich etwas für Sie tun?", frage ich mit einer belegten Stimme, die ich immer habe, wenn mir etwas unangenehm ist. „Oh ja, oh ja. Kommen Sie bitte mit hinein, ich muss dringend mit Ihnen reden", mit einem mütterlichen Lächeln betrachtet mich Frau Maybach nachdenklich, ehe sie die Türöffnet und mir aufhält. Dankbar lächelnd gehe ich ins warme Innere, wo schon einige meiner Kolleginnen neidisch her schielen. „Worum geht es denn?", hake ich nach und beiße mir auf die Lippen, doch Frau Maybach macht nur eine wegwerfende Handbewegung und stiefelt selbstbewusst wie immer über den Gang; sofort machen ihr alle ehrfürchtig Platz. Schnell folge ich ihr und rücke meinen Schal und die beiden Kapuzen meiner Winterjacke und des Hoodies zurecht, ehe ich mit meinem Kaffeebecher in ihr glasiges Büro eintrete. Auf dem Tisch liegt eine geöffnete Ledermappe, darin ein Papier, das aussieht wie ein Vertrag. „Setzen Sie sich besser", Frau Maybach deutet der Einfachheit halber auf den weißen Holzstuhl, bevor sie sich selbst in ihren großen Sessel sinken lässt. Mit einem leicht zischenden Geräusch gibt der dunkle Stoff unter ihr nach. Fast ein wenig nervös husche ich zu dem Stuhl und setze mich, den Becher in meiner Hand fest umklammernd und die Lippen aufeinander gepresst. Entweder wirft sich mich raus oder bietet mir eine Beförderung an, was ich für unwahrscheinlich halte. „Okay, hab ich", versuche ich mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen, und wie es scheint, nimmt meine Vorgesetzte mir meine Coolness ab. „Na dann ... fangen wir mit dem Unerfreulichen an: Ich muss aufhören. Mir blutet das Herz, wenn ich daran denke, wie viel Arbeit und Leidenschaft ich in diesen Verlag gesteckt habe, wie viele Frauen meine Arbeit helfen konnte und wie inspirierend ich war. Aber ein Herzfehler ist ein Herzfehler; ich werde auch nicht jünger, leider", Frau Maybach überschlägt die Beine geschäftlich wie sie es immer tut und verschränkt ihre geschmückten Finger miteinander im Schoß. „Das tut mir leid", erwidere ich und schlucke. Was hat sie vor? „Vor einigen Wochen habe ich Sie gefragt, wen sie als meine Nachfolgerin sehen wollen; Nun, da wusste ich noch nicht, wie schnell es sein müsste. Aber dennoch habe ich jemanden gefunden, der – die – der Aufgabe gewachsen ist. Sie bringt exakt die Eigenschaften mit, die Sie, Emma, mir genannt haben", lächelt Frau Maybach mich an und lehnt sich nach vorne, sodass ich einen klaren Blick in ihre strahlenden Augen werfen kann. „Ich -", setze ich an, doch sie unterbricht mich: „Ja, Sie." Was? Schockiert sehe ich sie an. Doch Frau Maybach lächelt nur noch mehr und nickt. „Sie, ich möchte Sie als meine Nachfolgerin sehen, Emma. Mir ist klar, dass ich Sie noch nicht lange hier arbeiten, aber vielleicht ist auch das gerade gut. Man wollte mir schon lauter Externe andrehen, aber das ertrage ich nicht, ich will wissen, in wessen Händen mein Verlag liegt. Und Ihre scheinen mir die Richtigen zu sein", auffordernd blickt Frau Maybach mich an und atmet tief durch. Dann greifen ihre schlanken Finger nach der Mappe, die zwischen uns liegt, dazu legt sie einen schwarzen Kugelschreiber, auf dessen Spitze ein kleiner roter Stein klebt. Ungläubig gleiten meine Augen über das Papier, auf dem groß und breit das Wort Vertrag steht. „Wirklich? Ich? Frau Maybach, die meisten Frauen da draußen akzeptieren mich nicht", atemlos blicke ich nach draußen, wo die meisten inne halten. Alle, aber auch alle sehen zu uns, wie Frau Maybach mir den Vertrag über den Tisch reicht und mich anlächelt. Jedes Gesicht, das ich auf die Distanz genau ausmachen kann, schaut entsetzt. Nur Sid lehnt grinsend im Türrahmen und reckt den Daumen, obwohl er nicht einmal weiß, worum es geht. „Enttäuschen Sie mich nicht, Emma, ich habe Sie immer als eine Kämpferin wahrgenommen. Mit Stärke, Kreativität und Disziplin und noch vielem mehr. Ich wünsche mir, dass Sie meinen Verlag unternehmen. Sie sind taff und haben eine gute Menschenkenntnis; ich weiß, dass sie mit all diesen Frauen umgehen können. Sie können einen Verlag führen", eindringlich sieht Frau Maybach mich an, zum ersten Mal in unserer Zusammenarbeit kann ich in ihren Augen etwas Flehendes und Schwaches sehen. Sie hat Angst. Angst, dass nicht ich den Verlag übernehme. „Ich danke Ihnen für alles. Ihr Vertrauen und Ihr Angebot. Das ich annehmen werde, Frau Maybach", fasse ich einen Entschluss, von dem mir glaube ich noch nicht einmal klar ist, dass ich ihn gerade getroffen habe. Ohne groß darüber nachzudenken, ohne es zu realisieren oder richtig zu verstehen, schlage ich mit Frau Maybach ein und unterschreibe mit meiner krakeligen Handschrift den Vertrag. Den Vertrag zur Chefredakteurin und Verlagsleiterin. Meine Hand zittert richtig, als ich meinen Namen auf die vorgefertigte Zeile setze, sodass ich es nicht einmal schaffe, die Feder im Kugelschreiber wieder zurückspringen zu lassen. „Dann gratuliere ich Ihnen. Ab dem ersten Januar sind Sie die Chefin", Frau Maybach blinzelt, genauso wie ich in ihren Augen Tränen glänzen sehen kann. „Aber nur, wenn Sie noch oft vorbeikommen", entgegne ich und grinse sie breit an, sie lächelt ebenfalls. „Immer. Ich danke Ihnen, Emma", ergriffen greift Frau Maybach nach meinen Händen und drückt sie herzlich, beflügelt erwidere ich den Druck. „Ich danke Ihnen unendlich und ich verspreche Ihnen, dass ich den Verlag so weiterführen werde, wie Sie ihn gedacht haben", noch immer kann ich es nicht fassen, dass Frau Maybach mir diese Verantwortung und diese Aufgabe gibt. Mir. Verdammt, ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft! Wenn ich das meiner Mutter erzählen könnte! Und ich kann das ganze Gespräch mit meiner Noch-Chefin nicht anders, als sie anzustrahlen und dümmlichen den Vertrag anzugrinsen, als würde ich erwarten, dass die schwarzen Buchstaben zurücklächeln, doch das tun sie nicht. Derjenige, der am meisten zurücklächelt, ist Sid. Wie beim Zuprosten hebt er seinen Kaffeebecher und schaut mich stolz an, als er einen Schluck nimmt. Mit seiner Vatermütze auf dem Kopf.

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