TIMS SICHT
Obwohl es nicht meine Hochzeit ist, fühlt es sich so an – zumindest bin ich ebenfalls verdammt nervös. Unsicher zupfe ich an meinem weißen Hemd herum und begegne dem Blick meines besten Freundes. Maik tippt aufgeregt mit den Fußspitzen auf dem Boden herum und schüttelt seinen Kopf, um seine Haare ... was auch immer. „So schlimm?", frage ich ihn möglichst sanft, doch er spannt sich noch mehr an und krallt sich mit den Händen in seiner Jeansjacke fest, die wie angegossen sitzt. „Scheiße, ja. Oh man, wenn Luna hier nicht gleich auftaucht ... ich kann nicht alleine um die Ecke zu unseren Verwandten gehen! Sind die überhaupt alle schon da? Scheiße, Mann!" Ich habe Maik noch nie so aufgebracht erlebt. Die meisten Momente, die ich mit ihm geteilt habe, waren entweder ruhige und entspannte oder vielleicht noch lustige – zumindest hat er Millionen Mal versucht, mich zum Lachen zu bringen. „Bestimmt sind alle da. Wieso auch nicht? Versuch einfach, dir keinen Kopf zu machen", ich klopfe ihm unbeholfen auf die Schulter, die zittert. Wie soll ich ihm auch sonst zur Seite stehen? Ich habe gar keine Ahnung von Hochzeiten, geschweige denn davon, wie man seinen Kumpel beruhigt, mit dem man hinter einer Hauswand einer Bergbahn wartet, damit dessen Braut kommt und die beiden gemeinsam zu ihrer Verwandtschaft gehen können. Auch wenn es eh schon die beste Lösung ist, zu der Luna und Maik gekommen sind; sodass dieser besondere Moment, in dem die beiden sich sehen, ein intimer Moment bleibt. Und die Idee, dass die beiden zusammen vortreten und nicht nur die Braut, das war natürlich Lunas und Emmas Werk, das Maik zu gerne unterstützt. „Wie soll ich mir denn keinen Kopf machen? Wieso kommen die beiden nicht? Ist ihnen etwas passiert?!", Maiks Panik macht mich auch tausend Mal nervöser. Schon alleine bei der Vorstellung, dass Em – nein, weiter kann ich nicht denken, dafür schießt mein Puls zu sehr in die Höhe und alles in mir verkrampft sich. Im selben Augenblick hupt es lautstark. Grinsend hebe ich den Kopf und erblicke Emmas Ford, der um die Ecke schießt und laut über das Kopfsteinpflaster rattert, aus dem Auto dröhnt bis hierher laute Musik, die mich noch mehr grinsen lässt. Kaum hält der Wagen direkt vor Maiks Füßen, springt Luna vom Beifahrersitz nach draußen und strahlt uns beide an; schon jetzt merke ich, wie meine Augen feucht werden und sich meine Lippen zu dem stolzesten Lächeln ziehen. „Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich dich im Hemd heiß oder hässlich finden soll", begrüßt Luna Maik frech, woraufhin er sie sofort in die Arme schließt. „Ich finde dich jedenfalls in dem Kleid scharf", nuschelt er in ihre offenen blonden Haare und zwinkert mir zu, als sie ihn tritt. „Igitt, wie kitschig", höre ich Emmas Stimme. Sofort wende ich mich von dem Paar ab und stocke, als ich meine Freundin sehe. Ich weiß, dass sie mich dafür hassen wird und mir ewig vorhalten wird, dass ich einen romantischen Moment daraus gemacht habe, aber es geht nicht anders. Es ist das erste Mal, dass ich Emma in einem Kleid sehe. Und es sieht verdammt gut aus, auch wenn ich sie in ihren Hoodies noch lieber mag. Als sie meinen sehnsüchtigen Blick bemerkt, wirft sie mir strafende Blicke zu und rückt ihre schwarze Lederjacke zurecht – fast das gleiche Modell, das ich trage, nur ist meins braun. Wenn es nach mir ginge, wäre ich ungern in Lederjacke, Jeans und Sneakern bei einer Hochzeit aufgetaucht, aber Luna und Maik haben darauf bestanden, dass Em und ich als ihre Trauzeugen das Gleiche wie sie tragen – mit dem Unterschied der Jackenart. „Hey", Ems Stimme klingt gleichermaßen rau und kampflustig zugleich, als sie mir näher kommt. Ihre braunen Augen funkeln förmlich und ziehen mich in einen Bann, aus dem ich noch nie herausgekommen bin. Sobald sie mich ansieht, kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dann ist nur noch Em in meinem Kopf – mit ihren Augen und ihrer Seele. „Hey", klinge ich ganz kratzig, als ich ihr antworte. Nicht nur ihr Anblick macht mich nervös, auch ihr prüfender Blick, den sie über meinen Oberkörper wandern lässt. Dann verzieht sie das Gesicht und grinst frech wie immer. „Dein Hemd ist spießig. Und langweilig. Und weiß", flüstert sie mir zu und klopft mir auf die Brust. Obwohl sich noch der dünne Stoff des Hemdes zwischen ihrer Handfläche und meiner Haut befindet, habe ich das Gefühl, in Flammen aufzugehen. Schluckend will ich etwas erwidern, aber mein Mund ist zu trocken. „Halt bloß die Klappe. Ein Kommentar zu meinem Kleid und -", sie kneift ihre wunderschönen Augen zusammen, sodass ich nur noch mehr lächeln muss, so leid es mir auch tut. „Sonst was?", erwidere ich ruhig und lasse meinen Blick noch einmal über ihren Körper gleiten, dieses Mal richtig. Auf der hellen Haut ihres Halses ruht das dunkle Lederband unserer Kette. Schon alleine, dass sie sie trägt, lässt mich strahlen. Doch den Anhänger selbst hat sie wie immer gut in ihrem Ausschnitt verborgen; neben der Silhouette des Rings erkenne ich auch deutlich die Träger ihres dunklen Sport-BHs, was mich tief die Luft einziehen lässt. Gott, ich liebe diese Frau. Jede Faser von ihr. Jede Faser ihres dickköpfigen, sturen, prinzipiengetreuen, freiheitsliebenden und selbstbestimmten Charakters, so sehr, dass es weh tut. „Was?", reißt Em mich aus meinen Gedanken, als sie mich anstupst. Hastig hebe ich den Blick von ihrem Oberkörper und erhasche einen letzten Blick auf ihre Beine, die bis zur Hälfte der Oberschenkel nackt sind. „Darf ich dich nicht anstarren?", schmunzele ich sie an, ich könnte schwören, dass ich sehe, wie ihre Wagen einen dunkleren Farbton annehmen. Für Fremde kaum erkennbar und selbst für mich nur zu erahnen, aber ich spüre förmlich, wie ich sie ein wenig aus dem Konzept bringe. „Jetzt hört mal auf, euch mit Blicken aufzuschlingen, ihr seid ja schlimmer als wir", brummt Maik hinter mir. Ems kurzes Blinzeln zeigt mir, dass sie die beiden auch für ein paar Sekunden vergessen hat. „Das geht ja wohl gar nicht", protestiert Em sofort und verschränkt lachend die Arme, Luna streckt ihr die Zunge heraus. „Das deute ich mal als Zustimmung", kommentiere ich das Nicht-Negieren unserer besten Freunde, die sich nur verschwörerisch angrinsen. Kein Wunder bei dem Lärm, den die beiden in den letzten Wochen gemacht haben, als sie dachten, sie würden leise genug stöhnen, kreischen und lachen. Das wird einer der Punkte sein, die ich ab morgen Nacht nicht mehr an unserer WGv ermissen werde – jedenfalls hoffe ich einfach nur inständig, dass wir die beiden durch ihre Decke, beziehungsweise unseren Boden, nicht mehr hören werden. „Das diskutieren wir später weiter aus! Denkt bloß nicht, dass wir das vergessen!", droht Luna uns lachend, dann schnappt sie sich Maiks Hand. Ohne direkt hinzugucken, weiß ich, dass ihre Finger sich sofort verschränken, als die beiden nebeneinander um die Hausecke treten. Sofort bricht Gekreische aus, bei dem Em übertrieben schmerzhaft das Gesicht verzieht; leise lachend stoße ich sie in die Seite. Belustigt rempelt sie zurück und mich um das Eck herum, dann folgt sie mir. Es stehen wirklich alle Menschen da, die Luna und Maik etwas bedeuten. Manche – wie deren Mütter – rennen ihnen sogar entgegen und umarmen die beiden freudig, während Em und ich uns etwas bedeckter hinter den beiden halten. Und dennoch ist es mir zu viel Aufmerksamkeit, die uns geschenkt wird. Als erstes ist Cora, Lunas kleine Schwester, bei uns oder eher mir. „Hi Tim", begrüßt sie mich mit einem strahlenden Lächeln, das mich sehr an ihre Schwester erinnert. „Hallo", zu mehr komme ich gar nicht, da umarmt sie mich bereits. Neben mir höre ich es leise prusten. Als ich den Kopf zu Em drehe, beißt sie sich auf die Lippen. „Fällt dir etwas auf?", löchert Cora mich weiterhin und streicht sich eine Haarsträhne zurück, was definitiv ein niedlicher Flirtversuch einer Zwölfjährigen ist, auch wenn ich mich ehrlich gesagt noch immer frage, warum sie das bei mir tut. Nicht nur wegen des Alters, auch so verstehe ich es nicht sonderlich – wieso findet sie mich attraktiv? Wieso nicht Maik? „Nein", ziehe ich das Wort in die Länge, um Zeit zu gewinnen. Ich mag die Kleine zwar, aber dennoch überfordern mich solche Situationen immer noch, aber Emma macht keine Anstalten, mir zu helfen. Entweder amüsiert meine Hilflosigkeit sie oder es liegt daran, dass sie Kinder immer noch nicht mag. „Ich gebe dir einen Tipp, okay? Ich bin bald größer als deine Freundin", lacht Cora, wobei sie aber ziemlich beleidigt klingt, als sie das Wort Freundin ausspricht; daraufhin wirft sie Emma auch einen bösen Blick zu und präsentiert mir ihre Absatzschuhe. Diesmal muss ich wirklich breit grinsen – irgendwie finde ich es süß, wenn jemand Emma provoziert und ihr unter die Nase reibt, dass sie die dreckigsten und abgelaufenen Chucks der ganzen Hochzeitsgesellschaft anhat, doch sie verdreht nur über Coras Kopf hinweg die Augen und schneidet genervte Grimassen. Sehr zu ihrem Leidwesen werden wir Lunas kleine Schwester nicht mehr los, die scheinbar kein Interesse daran hat, zu dem Brautpaar zu gehen, sondern nicht mehr von meiner Seite weicht. Gerade, als sie mir zuflüstert, ob ich mit ihr tanzen werde, setzt sich alles in Bewegung zu den Gondeln. Erleichtert verabschiede ich mich ohne eine weitere Auskunft von ihr und folge Em, die sich durch die Menge drängelt, um nach vorne zu der ersten Gondel zu kommen. Luna springt als Erste in die Kabine und hält Maik lachend die Hand hin, mein bester Freund ergreift sie natürlich feierlich und „lässt sich hinein helfen", woraufhin ein Seufzen durch die Runde geht. Als nächstes steigen Em und ich hinein, daraufhin folgt nur noch der freie Redner, den wir mit dem Paar ausgesucht haben. Den Rest der Gesellschaft sperren Luna und Maik geflissentlich aus und bestehen darauf, dass sie die Gondeln dahinter nehmen. In Anbetracht dessen, dass es gerade einmal halb sieben Uhr ist und die Leute nur für die Trauung aufgestanden sind, habe ich zwar meine Bedenken geäußert, aber vergebens. Es bleibt dabei, dass Luna Cora nicht mit in der Gondel will, weswegen auch Lunas Eltern bei ihrer Tochter bleiben und somit auch Maiks Mutter bei ihrer engsten Freundin; alle anderen werden auf die darauffolgenden Kabinen verteilt. Ruckartig wird die Gondel den Burgberg heraufgezogen, was Luna und Maik ein ausgelassenes Lachen entlockt; mehr als das, die beiden albern bereits herum und schubsen sich gegenseitig herum, wobei es mich nicht wundern würde, wenn einer durch die eigentlich verschlossene Tür doch herausfällt und sich irgendwo zwischen den Tannen wiederfindet. Aber diese Vorstellung ist sicher nicht der Grund, warum mir Tränen in die Augen steigen, als der Redner anfängt zu sprechen. Verdammt, das sind immer noch Luna und Maik. Meine besten Freunde. Die Menschen, die immer zu mir standen. Quasi meine Familie. Umso schwerer fällt es mir jetzt, mich zurückzuhalten. Und gleichzeitig bin ich wütend auf mich selbst, dass ich in so einem magischen Moment an meine Eltern denken muss. Andererseits ... über die Schultern der beiden hinweg sehe ich ihre ganze Verwandtschaft, Menschen, für die es nichts Wichtigeres an diesem sonnigen Morgen gab, als die Trauung dieser beiden Menschen zu verfolgen. Etwas, das ich nie erleben werde. Vertraut warme Finger streifen meine sanft. Ems Blick begegnet meinem intensiv. Lesend. Bewusst. Aufbauend. Sie weiß haargenau, was ich denke und fühle. Und da ist kein wirkliches Mitleid, das ich nicht will. Keine Verachtung dafür. Einfach nur Verständnis, Akzeptanz und Kraft. Beinahe hätte ich aufgekeucht, aber ich lächele sie nur an und schlucke die Tränen hinunter und umklammere ihre Finger wie ein kleiner Junge; noch lange, während Luna und Maik bereits beide ihre selbst geschrieben Gelübde aufsagen, sich gegenseitig die Armbänder mit den Eheringen umbinden und gegenseitig boxen, weil der jeweils andere weinen muss.
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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...