Kapitel eins

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elf Jahre später

Back in Braunschweig", ich atme tief durch und schicke die Nachricht mit Herzklopfen ab. Alles hier ist so vertraut. Und doch so unendlich fremd. Wie absurd es ist, dass ich mich wieder wie ein Kind fühle, das in eine neue aufregende Stadt kommt, obwohl ich eine siebenundzwanzig Jahre junge Frau bin und einfach in meine Heimat zurückkehre. Mit einem mulmigen Gefühl öffne ich meine Autotür und setze vorsichtig einen Fuß auf den überhitzten Asphalt. Nichts hat sich geändert. Meine dunklen Chucks bewegen sich mit einer Leichtigkeit über den Boden, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Mein Blick jagt nur so von einem Objekt zu dem nächsten, von der Bank zum Mülleimer, zu dem roten Auto neben mir, zu dem Treppenaufgang, zu den vielen Schließfächern an der Hauswand. Sofort lasse ich meine schwarze Autotür zufallen und all mein Gepäck an Taschen, Kartons und Proviant hinter mir, ich renne einfach nur zu den ganzen kleinen Spinden. Mit keuchendem Atem überfliege ich die kleinen Nummern und Namen, bis ich es finde: Wohnung Stadtnest. Ich strahle. Mein Ticket in meine eigene Wohnung. Meine roten Haare fallen mir in wilden Strähnen ins Gesicht, als ich mich über das kleine Zahlenschloss beuge und versuche, den Code einzudrehen. Nichts passiert. Ganz ruhig. Einfach nochmal drehen. Ich kneife meine Augen zusammen und konzentriere mich auf die kleinen Zahlenrädchen, die sich mühelos unter meinen Fingern umdrehen lassen. Doch wieder bleibt der Kasten verschlossen. Fuck. Ich muss mich beherrschen, nicht auf das kleine quadratische Fach einzuschlagen. Vielleicht sind es einfach die falschen Zahlen. Obwohl das eigentlich nicht sein kann. Dennoch greife ich langsam in die Hosentasche meiner Shorts und angele mein Handy heraus. Mit wenigen Bewegung öffne ich meine Mails und lese nochmal die Nachricht meiner Vermieterin. Die Zahlen bleiben die Gleichen, die ich eben eingestellt habe. Alles ist gut, ich bin nicht verrückt. Oder bescheuert. Trotzdem geht mein Atem stoßweise und ich merke, wie ich unruhig werde. Selbst die letzte Freude, bei der ich mir nicht sicher war, ob sie da ist, ist spätestens jetzt verschwunden. Ich lehne mich an die ganzen Wände und spüre eine angenehme Kälte im verschwitzten Rücken, als mein Gesicht von der untergehenden Sonne durchflutet wird. Irgendwo in der Ferne wird laut Musik gespielt, die fast meine wirren Gedanken übertönen kann. Doch immer wieder driften die Bilder in meinem Kopf vom einen zum nächsten, vermischen sich mit den vielen Eindrücken von hier; mit dem verzerrten Gerede von Menschen, mit klirrenden Gläsern, mit zwitschernden Vögeln, mit brausenden Autos, mit meinem wilden Atem. Aber will ich jetzt einfach aufgeben? Wo will ich denn hin? Wo ist die Kämpferin in mir geblieben, verdammt? Die Kämpferin, die ich verstärkt in den verdammten letzten elf Jahren war. Die ich mein ganzes Leben lang war. Furchtlos, willensstark und ehrgeizig. Wie von selbst zücke ich noch einmal mein Handy und tippe auf die angegeben Notfallnummer in der E-Mail. Es dauert, bis es überhaupt am anderen Ende klingelt. Minutenlang muss ich dastehen und mir einfach nur mein Handy ans Ohr halten, als endlich abgenommen wird: „Ja bitte?" „Hallo, hier ist Emma Femer, ich rufe wegen meiner Wohnung an ...", meine Worte hängen in der Luft, als wüsste die Frau am anderen Ende der Leitung nicht, wer ich bin. Sie schweigt. „Sind Sie noch da? Hören Sie, ich stehe hier vor der Schlüsselübergabe und ...", setze ich an, aber sie stöhnt auf, als würde ihr meine Frage körperlich Schmerzen bereiten. Unruhig sehe ich mich um, aber niemand ist zu sehen. Vor mir prallt nur die Abendsonne auf das Dach meines Autos, das Einzige, was sich direkt um mich herum befindet. Auf der anderen Seite der Oker sind die Leute nur zu hören, nicht zu sehen. Es ist, als würde diese Wand aus angemaltem Schilf sie von mir abschirmen. Als könnte niemand Zeuge von dem werden, was hier gerade passiert. Wie meine Wohnung sich schon in Luft aufzulösen droht. „Ich verstehe, was Ihr Anliegen ist, nur muss ich Sie enttäuschen. Meine Mutter hat heute Nacht einen Schlaganfall erlitten und hat wohl die Schlüssel noch nicht an Ihrem Platz deponieren können, tut mir leid", die fremde Frau, scheinbar die Tochter meiner Vermieterin, geht auf und ab, das Klackern ihrer Absätze auf einem glatten Grund verrät sie. Meine erste Intuition ist, dass sie im Krankenhaus ist. Ich fühle mich sofort etwas schlecht, dass ich sie in so einer Situation erreiche und sie so einen Anruf auf dem Handy ihrer Mutter annehmen muss. Aber genauso sehr merke ich, wie sich Verzweiflung in mir breit macht. „Das tut mir aufrichtig leid. Ich hoffe, Ihrer Mutter wird es bald besser gehen und sie erholt sich gut ... Aber ... Ich weiß, dass das jetzt ein sehr schwieriger Zeitpunkt ist, und dennoch wüsste ich gerne, wie wir das hier regeln könnten. Vielleicht kann ich ja kurz den Schlüssel bei Ihnen ...", ich werde gar nicht fertig, da fällt sie mir wieder ins Wort: „Das geht nicht, wirklich. Ich habe leider keine Ahnung von den Immobilien meiner Mutter, geschweige denn, dass ich Ihnen sagen könnte, wo sie ihre zahlreichen Schlüssel aufbewahrt." Verdammte ... Ich fahre mir durch das Haar und stoße mich von den Schließfächern hinter mir ab, sodass ein paar der Schlösser wackeln und hart gegen das Metall schlagen. „Was soll das heißen? Soll ich mir die Nacht ein Hotelzimmer nehmen und ich helfe Ihnen morgen Früh beim Suchen der Schlüssel, wenn Ihnen das recht ist?", ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. „Nein, es tut mir leid. Ich bin sicher, Sie verstehen die aktuelle Lage. Melden Sie sich in ein paar Wochen nochmal, ich verspreche Ihnen, bis dahin kann ich Ihnen die Kosten zurückerstatten. Da wird meine Mutter mir sicher sagen können, wo sich die Unterlagen befinden", noch distanzierter hätte sie es nicht formulieren können. „Natürlich verstehe ich Sie, aufrichtig. Nur bin ich gerade etwas aufgewühlt, verstehen Sie? Ich bin die ganzen sechshundert, fast siebenhundert Kilometer aus Bayern mit meinem Gepäck hierher gefahren und habe all meine Sachen in meinem Auto. Der Rest befindet sich nämlich schon in meiner, ich meine, in der Wohnung Ihrer Mutter. Sie hat mir angeboten, dass ich einen Großteil der Möbel der Vormieterin übernehmen könne und ...", ich hätte damit rechnen sollen, dass ich nicht zu Ende reden kann. Unter normalen Umständen wäre ich laut geworden und hätte dieser Frau meine Meinung gesagt, aber heute unterlasse ich es. „Ich weiß, ich weiß. Aber wie Sie hören, sind mir die Hände gebunden. Es tut mir aufrichtig leid, aber Sie werden sich etwas anderes -", im Hintergrund piept es. Sie ist definitiv im Krankenhaus. „Es ist etwas mit meiner Mutter, melden Sie sich einfach!", sie legt auf und das Letzte, was ich höre, sind eilige Schritte auf einem leeren Gang. So ruhig wie möglich stecke ich mein Handy wieder ein und gehe ein paar Schritte zu meinem Auto. Mechanisch mache ich die Tür auf und lasse mich ins heiße Innere fallen, sofort bleiben meine Oberschenkel wieder an dem ledernen Sitz kleben. „Fuck! Fuck! Fuck!", kaum habe ich die Tür zugeknallt, schlage ich auf das Lenkrad ein. Wieder. Und wieder. Und wieder. Bis ich das Gefühl habe, meine Hand ist zu taub, um noch einmal nur knapp die Hupe zu verfehlen.

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