Ich blinzele. Zu gerne würde ich das alles aus meinen Gedanken verbannen, was zwischen Tim und mir damals passiert ist. Andererseits gibt es diesen Spruch It's better to have loved and lost than never to have loved at all, der wohl ziemlich gut auf unsere Situation passt. Auch wenn es mir widerstrebt, zuzugeben, Tim geliebt zu haben, muss ich es hundertprozentig bejahen. Dabei spielt es keine Rolle, dass wir nur anderthalb Jahre zusammen gewesen sind oder dass wir damals erst sechzehn Jahre alt waren. Es zählt nur, was wir gefühlt haben. Oder eher was nur ich gefühlt habe. Unverwandt nehme ich wieder meinen Blick von Tim und konzentriere mich besser auf den Bauch des Mannes hinter ihm, der sich andauernd hebt und senkt. „Also sprichst du wohl mit mir?", fragt Tim rau und stützt sich etwas mehr auf seinen Oberarmen ab. „Scheint so", leider könnte ich jetzt eh nicht mehr lesen, jedenfalls hat es dieses Buch nicht verdient, es nur zu überfliegen. „Okay ...", Tim schluckt und rupft einen Grashalm zwischen uns aus, ich beobachte, wie sich langsam die grünen Fasern aus dem Boden ziehen lassen und ein wenig aufgesplittet werden. „Hast du eine Frage?", er dreht den Grashalm zwischen seinen Fingern, sodass es ein wenig quietscht. „Hör sofort auf damit, wieder von früher anzufangen", meine Stimme klingt viel brüchiger als sie sollte. Tim zuckt dennoch leicht zusammen und beißt fest die Zähne zusammen, sein Kiefer knackt laut. „Ich ... ja, vergiss es. Ähm ich meinte zu jetzt", murmelt er. „Du meinst so etwas wie ... warum du nicht schwimmst, warum du dein Shirt nicht ausziehst, warum du ein Alkoholproblem hast oder warum du heute Morgen so sauer warst?", ich merke, wie meine Stimme vor übertriebenem Interesse trieft. Tim schweigt. „Nein, ich – Em ... Emma ... kannst du nicht ganz normal mit mir reden?", er ist für eine Weile nicht mehr mein Exfreund, mehr wirkt er auf mich wie ein verzweifelter Welpe, der gerade um etwas bettelt. Nur weiß ich nicht, worum. „Wieso sollte ich?", die Methode, ihn zu foltern, gefällt mir doch irgendwie besser. Oder ist das jetzt zu kindisch und sadistisch? „Weil ... ich schätze, die anderen haben es dir eh gesagt", Tim senkt den Blick und wirft den Grashalm endlich weg. Was hat er denn? Meint er ... nein, bestimmt nicht. Obwohl es einen Sinn ergeben würde, als er gestern Morgen gesagt hat, er hätte mich auch vermisst ... Stimmt es etwa? Was Luna sagt? Empfindet er etwa für mich? Nein. Das kann nicht sein. Außerdem muss es mir egal sein! „Ich verstehe nicht, was du meinst", weiche ich ihm aus. Es verursacht eine gewisse Panik, mit ihm hier alleine zu liegen und Luna und Maik nur im Wasser zu wissen. Auch wenn ich Tim erst seit achtundvierzig Stunden ertragen muss, kommt es mir vor, als würde kaum Zeit zwischen dem damals und dem heute liegen. Die elf Jahre, in denen ich versucht habe, ihn zu vergessen, waren nutzlos. Selbst hundert Jahre hätten nichts ändern können. Weder an meinem gebrochenen Herz und meinem verletzten Stolz, noch an dem, was Tim in mir auslöst. Und das widert mich an. Ich bin überrascht von mir selbst, dass ich ihn noch immer nicht normal anschauen kann, ohne dass mein Herz schlägt. Oder ist das nur Wut? Panik? Hass? Verachtung? „Dann ... vergiss es. Bei welchem Verlag bewirbst du dich morgen?", fragt Tim ganz normal. So sachlich, wie es die letzten beiden Tage nicht zwischen uns war. Und das Komische ist, dass ich genauso neutral antworten kann. Also berichte ich von der Idee dahinter und warum mich das so reizt; mein Exfreund hört einfach nur zu und nickt an manchen Stellen, sodass es fast so wirkt, als würde ich auf Verständnis treffen. „Ich schätze, jetzt muss ich dich fragen, warum du bei der Polizei bist", ich seufze und packe mein Buch endgültig bei Seite. Tim lächelt. Ich nicht. „Oder du erzählst von deinem vorherigen Job", er mustert mich und in seinen Augen blitzt etwas auf, das ich nicht einzuordnen weiß. Einerseits sitzt dort der Tim, den ich geliebt habe, andererseits sitzt dort jemand unendlich Fremdes, der einen Beruf hat, den er nie haben wollte, Alkoholiker ist, wahnsinnig verschlossen und schweigsam ist, noch dazu scheint er ernsthaft Probleme mit seinem Oberkörper zu haben scheint. Sogar seine Augen sehen anders aus, wirken anders auf mich und doch irgendwie gleich. Wie kann ein Mensch sich nur so verändern? „Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin die letzten fünf Jahre von einem Job zum nächsten gesprungen. Höher, schneller, weiter und so ...", ich zucke mit den Schultern, die im Übrigen sehr schmerzen, wenn man sich so lange auf den Unterarmen abstützt. „Welche waren das?", Tim schaut behutsam. Es ist nachwievor komisch, ihm gegenüber zu liegen. „Hm, ich habe damals mit einem Blog angefangen und habe nebenbei noch bei einer Buchhandlung gejobbt, während des Studiums. Bei einer Buchmesse kam ich direkt zu einem Verlag und sollte als Co-Lektorin arbeiten, aber das ist irgendwie mehr Lunas Ding. Ich wollte selber schreiben. Selber etwas in der Welt ändern. Dann habe ich ewig gebraucht, bis ich bei einer Jugendzeitschrift als Redakteurin angenommen wurde, hab aber sehr schnell gekündigt. Danach ging es zur Tageszeitung und am Ende konnte ich Beiträge für ein Radio schreiben, aber das war alles nicht ...", ich wedele mit der Hand zwischen uns herum, Tim schmunzelt: „... du?" „Ja." Wir schweigen. Nach einer Weile drehe ich mich von ihm weg, bevor ich noch mehr ausplaudere, als ich mir jemals vorgenommen hätte ihm gegenüber. Der Knoten meines Bikinis drückt in meine Rücken, als ich die Hand vor die Augen lege, um in den Himmel zu schauen. Ob mein Vater dort inzwischen ist? Warum ist meine Mutter zu ihm gefahren? Hat sie mich wirklich seinetwegen zurückgelassen? War er nur eine Ausrede und sie hat sich ...? „Tim", unkontrolliert keuche ich seinen Namen. „Ja?", er reagiert sofort. Klingt nah, aber nicht zu nah an meinem Ohr. Ich vermute, dass er sich genauso hingelegt hat. „Sag bitte etwas zu deinem Job", es ist das erste Mal, das ich mich bemühe, nett zu sein. Und er bemerkt es, sofort beginnt er, als würde er die Panik spüren. „Es ging damit los, dass ... also ... okay, ich fange anders an. Ich hatte genau wie du das Bedürfnis, etwas zu verändern. Direkt nach dem Abitur bin ich ein Jahr lang zu der Bundeswehr gegangen, aber irgendwie hat mich das nicht erfüllt. Ich wollte anders helfen, mehr tun, näher an die Leute. Und da wusste ich auf einmal, dass man nicht helfen kann, wenn man außerhalb des Landes ist. Man muss drinnen sein und sich selber um die Menschen kümmern, die verletzten. Sie sollten bestraft werden. Also habe ich es mir selber zur Aufgabe gemacht, diese Täter zu suchen, zu finden, soweit es geht zu bestrafen, indem ich sie bis vors Gericht bringe. So hatten auch die Angehörigen die Chance, mit dem, was ihnen widerfahren ist, ein wenig abschließen zu können. Frieden findet man wohl trotzdem nicht ..." „Tim?", ich beiße mir auf die Zunge, weil ich wieder seinen Namen ausspreche. Vielleicht sollte ich es nicht tun, ich weiß nicht, ob ihm genauso unwohl ist wie mir, wenn er mich Em nennt. „Ja?", fragt er wieder. „Was ist dir alles passiert in der Zeit?", ich kann nur die Baumkrone anstarren, die wild über uns wackelt, als würde sie gleich auf uns drauffallen. Angst habe ich keine. „Viel", murmelt Tim. Wäre er nicht er, hätte ich meine Hand zu ihm geschoben und unsere Finger verschränkt. Hätte ich mich aufgesetzt und ihn in den Arm genommen oder hätte ihm durch das Haar gestrichen, wie wir es immer gemacht haben. Aber er ist Tim.

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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...