Kapitel einundfünfzig

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„Hey, Em", eine vertraute Stimme streift mein Ohr. Blinzelnd schlage ich die Augen auf und starre eine Silhouette an, die sich über mich beugt. Als ich nicht sofort antworte, greift Tim neben mich und betätigt einen Schalter, die alte Lampe neben mir beginnt zu flimmern. Langsam erscheint das ganze kleine Zimmer in einem spärlichen Licht, aber so, dass ich die alten Oma-Möbel erkenne, die um den altmodischen Fernseher gestellt sind, der auf einer rustikalen Kommode steht. Ein Hotelzimmer. „Alles okay? Erinnerst du dich wieder?", holt Tim mich in die Realität zurück, ich nicke benommen. Da war etwas. Verschwommen tauchen die Bilder wieder in meinem Kopf auf, fühlen sich an wie Erinnerungen nach einem Rausch, nur, weil sie so unwahrscheinlich sind. Die Klinik. Meine Mutter. Die Wahrheit über meinen Vater. Die Autofahrt. Die Telefonate gestern Abend. „Kein Traum?", ich klinge so gerädert, wie ich mich fühle. Stöhnend wische ich mir den Schlaf aus den Augen und verhake mich mit meinen Fingern in meinen verknoteten Haaren. „Nein, kein Traum", wiederholt Tim dann sanft meine Worte. Noch immer stützt er sich links und rechts neben meinem Kissen ab, sein Blick ist fest auf mich gerichtet. Irgendwie habe ich das dringende Verlangen, mich aufzurichten, ihn zu umarmen, ihm seine Kette runterzureißen und mir umzubinden, ihm das Shirt runterzureißen und sein Tattoo nachzufahren, um mich irgendwie entschuldigen zu können. Denn ich habe verdammt nochmal Scheiße gebaut. Ihm nicht geglaubt. Ihn bei meiner Mutter kaum in Schutz genommen. Ihn angeschimpft, selbst als er helfen wollte. Nicht zu ihm gestanden. Und er hat alles getan, mich nicht eine Sekunde angelogen, nichts wirklich vor mir verheimlicht – beziehungsweise hat er Andeutungen gemacht – und mich erst recht nicht betrogen. Und ich war so unfair. Habe ihm das alles vorgeworfen und ihn nicht einmal darauf angesprochen, sondern uns uns voneinander entfernen lassen, was tatsächlich meine Schuld ist. Ich habe es laufen lassen und ihn gehen lassen. Und er ist noch so doof und naiv, dass er immer wieder zu mir zurückkehrt, dabei habe diesmal ich den Mist gebaut. Für den er mich nicht eine Sekunde gestraft hat, sondern gestern Abend noch extra im Zimmer vor meinen Augen mit Lucy telefoniert hat. Er hat mich sogar gefragt, ob er auf Lautsprecher stellen soll – ob wegen unserer Beziehung oder meine Mutter weiß ich nicht einmal. Fakt ist, dass er das nicht tun müsste. Und er müsste es mir auch nicht verzeihen. Ich habe ihn enttäuscht und nicht er mich und das wissen wir beide. „Bist du schon bereit aufzustehen? Die alte Dame von gestern Abend, vielleicht erinnerst du dich, hat uns angeboten, schon früher das Frühstück hinzustellen", Tim löst sich als Erster aus unserem Moment. Er wirft mir noch einen betretenen Blick zu, dann richtet er sich auf und schlendert zu dem Tisch, auf dem scheinbar sein Handy liegt. Auch ansonsten ist er perfekt angezogen und scheint schon im Bad gewesen zu sein, selbst seine Schuhe hat er schon an. Für einen Moment frage ich mich, ob er überhaupt geschlafen hat und wenn ja, ob neben mir. Doch mehr Zeit ist für solche Gedanken nicht, stattdessen klettere ich aus dem Bett und lasse die warme Bettdecke zurück. Am Boden finde ich meinen Hoodie und meine Jeans, die Tim mir gestern Abend ausgezogen haben muss – oder war ich das? Ich könnte es nicht mehr sagen, weil ich so fertig mit den Nerven war. Aber es spielt sowieso keine Rolle. Also tappe ich nur ins Badezimmer und betrachte die von Tim angefangene Duschprobe; ansonsten haben wir ja nichts dabei. Seufzend spritze ich mir nur Wasser ins Gesicht, kämme meine Haare mit nassen Fingern und ziehe mich dann an – super. „Em? Kann ich dein Handy haben? Mein Akku ist alle", Tim klopft gegen die Tür. „Klar, wenn du es findest", rufe ich durch die dünne Holztür, ehe ich in meinem gestrigen verschwitzten Outfit wieder das Zimmer betrete. In der Zwischenzeit hat Tim bereits das Bett gemacht – muss man das überhaupt? – und gelüftet; sogar meine Arbeitstasche hat er bereits unter dem Arm und mein Handy in der Hand. „Aber wir frühstücken schon noch hier?", ich mustere ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, während ich nach meiner schwarzen Handyhülle greife und den Bildschirm entsperre. Bevor ich es ihm gebe, lächele ich bei den Nachrichten. Etliche Male haben Luna und Maik uns geschrieben, sich Sorgen gemacht und sich bedankt, dass sie sturmfrei haben. Und ein Selfie vom Brautkleidkauf geschickt. Shit, das hatte ich wirklich absolut vergessen. „Jap, habe dafür gestern Abend schon bezahlt, Schnarchnase. Oh, und danke", er tippt auswendig eine Nummer ein und hält sich dann mein Smartphone ans Ohr, während er bereits zur Tür trottet. „Lucy? Ja, ich bin's, wir machen uns gleich auf den Weg ...", beginnt er und trifft auf den Flur hinaus, ich seufze. Seine Distanziertheit macht mir jetzt schon zu schaffen. Ich weiß nicht einmal genau, warum – es gibt zu viele Gründe. Vielleicht schockiert ihn meine Familiengeschichte, vielleicht will er Distanz zu der Tochter der Zeugin, aber am wahrscheinlichsten ist er meinetwegen verdammt verletzt. Und ich kann nichts anderes tun, als ihm meine Tasche und unsere Jacken abzunehmen, auf den Flur zu folgen und abzusperren, wobei Tim mich mehr oder weniger stehen lässt und bereits nach unten eilt. Mit lauten, dröhnenden Gedanken in meinem Kopf folge ich ihm die mit rotem Teppich überzogenen Stufen nach unten bis zum Frühstückssaal, zumindest ist es eher eine Art Wohnzimmer, in dem die Tische bereits gedeckt sind. „Guten Morgen, Kaffee gefällig?", eine etwas jüngere Frau als ich selbst spricht mich an und hält eine dampfende Kanne in der Hand. Eigentlich hatte ich die Frau am Empfang gestern als älter in Erinnerung, aber vielleicht täusche ich mich oder es ist die Tochter oder wie auch immer. „Oh, nein, danke, da bin ich nicht so der Fan von", ich schüttele den Kopf und lächele entschuldigend, doch sie lacht auf: „Ach, ich auch nicht." „Aber ... er da vielleicht? Ich finde, seine Frau kann sich verdammt glücklich schätzen. Da ist er ja quasi schon der Morgenkaffee", flüstert sie mir amüsiert zu und lächelt Tim an, als er den Kopf zu uns dreht. Ich blinzele – vermutlich zieht er immer noch die Nummer durch, dass er nur auf mich aufzupassen hat, aber ich verstehe es. „Was?", ich runzele die Stirn und merke, dass ich gegen meinen Willen grinsen muss. „Heiß, stark und wachmachend", lacht mir die Brünette gegenüber entgegen und zwinkert mir zu, ich verschlucke mich beinahe an meiner Spucke. „Äh ja, er ist äh ...", stimme ich ihr irgendwie zu. „Uh, ich verstehe schon, ich wäre in der Nacht auch beinahe gestorben, wenn ich mit ihm in einem Zimmer geschlafen hätte", lacht sie noch einmal und will noch etwas fragen, da legt Tim auf und gesellt sich mit den Händen in den Taschen zu uns. Als er meine erhitzten Wangen bemerkt, lächelt er in sich hinein. „Was kann ich dir bringen? Schwarzen Kaffee oder doch lieber einen Latte?", grinst sie ihn tatsächlich frech an, ich beiße mir auf die Lippen. Tim ist diesmal derjenige, dessen Wangen sich rosa färben. „Egal", murmelt er bescheiden, woraufhin wir alleine gelassen werden – wetten, sie bringt ihm einen Latte? „Ähm nehmen wir uns etwas?", er räuspert sich und greift nach dem Teller, der auf dem Tisch beim Bücherregal steht. „Wenn das in Hotels so funktioniert?", ich tue es ihm gleich und folge ihm zu dem Buffet, auf dem Unmengen an Brotsorten, Wurstsorten und Obst aufgetischt sind. „Warte, du warst noch nie in einem Hotel?", Tim dreht sich schockiert zu mir um. „Ist einfach nur lange her, dass ich es war. Kann es an einer Hand abzählen – einschließlich meiner Kindheit", ich zucke mit den Schultern, streiche mir meine Strähne nach hinten und greife nach einer Brotscheibe. „Und ich bereite dir so einen miesen Aufenthalt", murmelt Tim kaum hörbar, als er sich mit der Gabel Käsescheiben auf dem Teller platziert. „Vergiss es einfach, ist okay. Abgesehen davon haben wir wirklich einen Zeitdruck. Also, was ist mit meiner Mutter? Was sagen deine Kollegen?", gebe ich den Anstoß für unser Tischgespräch. Denn sobald wir uns beide die Teller und Schalen vollgeladen haben, reden wir über nichts anderes mehr. Das ganze Frühstück lange kreisen unsere Gedanken darum, ob die Aussage meiner Mutter reicht, ob sie die nächste dort oder auf dem Präsidium machen kann und was danach mit ihr geschieht. Es ist eine ungewohnte Kombination aus dem Essen herunterschlingen, um möglichst schnell da zu sein und dem Nicht-Essen-Können wegen der Schwere des Themas.

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