Kapitel einundvierzig

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Etwas berührt mich an der Schulter. Panisch rücke ich zurück und stoße noch mehr gegen einen warmen harten Körper, ehe ich bemerke, dass es Tim ist. Und trotzdem schlägt mein Herz noch wie verrückt. Die Tatsache, dass er sich irgendwann nachts in mein Bett schleicht, macht mich dennoch wahnsinnig. „Sorry", wispert er leise, seine Stimme klingt ganz benommen und weggetreten. „Tim?", vergewissere ich mich, dass er überhaupt wach ist, mein Freund grummelt etwas. „Ja, tut mir leid, dass ich dich geweckt habe", antwortet er dann leise, seine Hand immer noch um meine Hüfte gelegt und sein Gesicht in meinem Kissen und in meinen Haaren vergraben. „Wieso überhaupt?", grummele ich, auch wenn ich eine Befürchtung habe. Aber jetzt, komplett schlaftrunken, kann ich nicht mit ihm über die Wohnung oder Nicht-Wohnung reden, geschweige denn ihm sagen, was ich wirklich denke. „Alles", nuschelt Tim ins Kissen, ich presse automatisch die Lippen zusammen, unfähig etwas zu sagen. Was heißt alles? Heißt alles uns? Doch ich verkneife mir die Fragen, weil ich weiß, dass Tim gleich weitersprechen wird. Schweigend warte ich ab, lausche seinem Atem, der langsam regelmäßiger wird, je länger er bei mir liegt. „Der Einsatz war schrecklich, überall war Blut, der Täter ... es war grausam, es tat so weh alles mit anzusehen. Jedenfalls ... letztendlich war es einfach nur der Streit eines Ehepaares. Er hat sie umgebracht, weil sie ihn heimlich verlassen wollte. Er hat ihre Tagebucheinträge und so etwas gefunden ...", flüstert Tim nach einer Weile, auf mir breitet sich eine Gänsehaut aus. Vorsichtig drehe ich mich zu ihm, sein kalter Atem und seine kalte Haut von draußen berühren sofort mein Gesicht. „Und du denkst, dass ich genauso bin?", flüstere ich leise zurück, Tims Finger suchen nach meinen. „Ich habe deine Blicke gesehen, Em. Du willst nicht mit mir zusammenziehen, keine Sekunde", erwidert er leise, fast beschämt und verletzt. Sofort spüre ich, wie das Messer sich auch langsam in mein eigenes Herz rammt; ihn zu verletzen tut mir genauso weh. „Tim, ich ... ich ... wir ...", mir fehlen die Worte, genau wie gestern Abend bereits. Verzweifelt halte ich seine Hand fester; ich habe Angst, dass er jetzt loslässt, doch auch Tim krallt sich nur an mir fest. „Warum nicht?", fragt er sanft, ich schließe die Augen. „Ich ... es ist ... zu früh. Wir haben noch nicht einmal ...", ich breche ab. Weil das nicht der einzige Grund ist. „Em, was ...? Außerdem wäre der Umzug erst nach der Hochzeit, ich dachte – aber -", wispert Tim. „Hey, warte. Das ist nicht der einzige Grund. Es ist auch einfach ... ich kann so etwas nicht. So ein Paarding. Es tut mir leid, aber ich ... ich weiß nicht, ob wir so ... zusammen sein können", brechen die Worte aus mir heraus, Tims Hand gefriert förmlich in meiner; mit der anderen knipst er blitzschnell das Licht an. Schockiert sieht er mich an, seine sonst so glänzenden Augen sind panisch aufgerissen. „Em, was habe ich falsch gemacht?", seine Stimme klingt brüchig, als er sich verzweifelt über mich beugt, seine rechte Hand krallt sich noch immer tief in meine Hüfte, sodass es schon fast durch die Decke hindurch schmerzt. „Nichts", beeile ich mich zu sagen, doch Tim wirkt noch genauso panisch. „Em, nein, bitte, geh nicht. Egal, was dein Problem ist, wir kriegen das zusammen hin, hörst du? Bitte, ich bin für dich da, aber geh nicht. Geh nicht, ich kann dich nicht verlieren", seine raue Stimme kratzt in der Luft, zerschneidet die Luft und gelangt trotzdem nicht so ganz zu mir. „Aber ich kann das nicht, es tut mir leid. Ich kann dir das alles nicht erfüllen, wovon du träumst. Wenn du mich damals schon kompliziert fandest, bin ich heute ... unlösbar", gequält sehe ich zu meinem Freund nach oben, der über mir lehnt. Seine Lippen zittern, seine Nasenflügel beben, seine Wimpern zucken unkontrolliert. Dann schüttelt er langsam den Kopf: „Das bist du nicht. Du bist scheiße kompliziert, ja, aber ich verstehe dich. Ich fühle dich, verstehst du?" „Tim ... ich kann dir nicht das geben, was du willst. Ich merke doch, wie deine Augen leuchten und wie du strahlst, wenn du hörst, dass Luna und Maik sich ein Leben aufbauen. Dass die beiden eine Wohnung suchen. Mit Kinderzimmer. Aber so bin ich nicht, wir werden keine Kinder haben und ich will dich auch nicht heiraten, es tut mir leid", flüstere ich, zu einem lauten Sprechen wäre ich nicht einmal fähig. Es tut mir weh, unfassbar weh, das zu sagen. Fassungslos sieht Tim mich an, sofort fühlt mein Mund sich staubtrocken an, meine Zunge klebt an meine Gaumen fest, aber ich muss weitersprechen. „Wir haben damals gesagt, dass das mit uns, dass das eine Probezeit wäre. Aber die ist vorbei. Ich meine ... ich habe doch gesehen, dass du jedes Mal gehofft hast, dass wir ... normal werden. Aber das wird es nicht. Und es tut mir leid, dass es mir schwerfällt, dich in der Öffentlichkeit zu küssen, dass ich das sogar nicht einmal vor Luna und Maik mache und es tut mir leid, dass ich dich nicht mit auf den Polizeiball begleiten wollte und es tut mir leid, dass ...", rede ich mich in Rage, halte ich mir selbst vor, was ich alles nicht kann. Weil ich nicht über meinen Schatten springen kann, weil ich nicht aus meiner Hülle springen kann. So bin ich nun mal. Doch ich komme nicht weiter, Tim presst plötzlich seine Lippen auf meine, hart und energisch. Keuchend schnappe ich nach Luft, aber erwidere den Kuss mit derselben Intensität. Mein Herz schlägt wild, vielleicht aus der Befürchtung heraus, dass es der letzte Kuss sein könnte. „Ich verlasse dich doch wegen so etwas nicht", murmelt Tim in den Kuss, dann lässt er seine Zunge wieder über meine Lippen gleiten, seine Hände fahren wild durch meine Haare, langsam lässt er sein Gewicht auf mich sinken. „Warte, du weißt nicht, worauf du dich da einlässt. Als ich dich das letzte Mal zu Doktor Oles begleitet habe, da ... ihr standet bereits an der Tür ... Jedenfalls hast du gemeint, du würdest mit mir irgendwann eine Familie gründen wollen, du würdest -", setze ich an, Tim holt Luft. „Hey, stopp, nicht so schnell! Ja, ich würde gerne eine Familie haben. Für mich gäbe es wenig, was schöner wäre, als mit dir ein gesundes Kind im Arm zu halten, aber es ist nicht mein Lebensziel. Mein Lebensziel bist du, Em, und es tut mir leid, wenn ich dir gerade Angst mache, aber so ist. Ich will dich, mit Kind oder ohne und mit Ring oder ohne. Wir können auch für immer einfach nur ein Paar sein, nicht einmal verlobt. Es ist mir egal, solange ich dich habe", Tims Worte reißen tiefe Risse in die Mauern, die ich jedes Mal wieder versuche aufzubauen. Wie Hammer treffen sie immer wieder darauf, schlagen wild dagegen, sodass es mir so verdammt schwerfällt, bei allem zu bleiben. „Aber als die beiden über ihre Hochzeit gesprochen haben und dann noch bei der Wohnung -", ich kann ihm nicht glauben. Nicht kognitiv, immer wieder sucht mein Verstand fieberhaft danach, noch etwas gegen unsere Beziehung zu finden. Weil er weiß, wie viel es bedeutet. Das hier mit uns ist bis jetzt ein Versuch. Ein verdammt intensiver, intimer, vertrauter und tiefer Versuch, aber ein Versuch. Ein Experiment, das man jeder Zeit damit beenden könnte, dass einer von uns auszieht. Aber dann, falls wir so richtig zusammenziehen, dann kann man es nicht einfach beenden. Dann kann ich nicht mehr weglaufen, ihm ausweichen oder notfalls einen Rat bei Luna suchen. Dann sind wir alleine, dann ist es ernst, dann ist es nicht mehr ein Versuch, sondern ein Versprechen. „Ich brauche das nicht, ich brauche dich, Em. Bitte lauf nicht weg, wir haben schon so viel geschafft", Tim ruht noch immer unsicher über mir, seine Arme neben mir beginnen langsam zu zittern, wenn ich genau hinsehe, kann ich den Herzschlag auf seiner nackten Brust sehen. „Aber eine Wohnung ... das wäre so ... fest", ich drehe den Kopf zu Seite um ihn nicht ansehen zu müssen, ich kann nicht. Es ist so schon schlimm genug, ihn so derartig vor den Kopf zu stoßen, ihm einen verbalen Schlag direkt ins Gesicht zu verpassen. „Hm, das haben Wohnungen so an sich", höre ich ihn sanft an meinem Ohr schmunzeln, dann wird er wieder ernst: „Aber wir sind ja sowieso schon so unkonventionell ..." „Was willst du damit sagen?", hake ich sofort nach, zögernd wage ich es wieder, ihm einen Blick zuzuwerfen. Tim sieht mich sofort intensiv an, seine Lippen umspielt ein schwaches Lächeln. „Na, wir müssen nicht so ein großes Ding daraus machen, wenn du nicht willst. Und wir müssen auch nicht als Paar zusammenziehen, wenn du das nicht magst. Wir können auch einfach als ... Team zusammenziehen, als undefiniertes Team. Wir müssen auch nicht sofort ein Schlafzimmer teilen, also klar, im Grunde tun wir das schon die ganze Zeit, aber wir können auch ein Stück zurücksetzen, wenn du magst. Ich habe Zeit, wir haben Zeit. Aber überlege es dir bitte, bevor wir beide ...", deutet er an. Ja. Bevor wir beide wie die Irren Wohnungen suchen, weil es uns kaum möglich sein wird, noch eine Single-Wohnung zu finden. „Ja", erwidere ich. „Ja?", haucht Tim, die Hoffnung flackert in seinen Augen auf. „Ja, wir schauen uns die zwei Wohnungen mit den beiden an", flüstere ich heiser, meine Stimme hört sich so fremd an. Viel erwachsener als sonst. Es ist ein wenig, als hätte ich in genau dieser Minute heute Nacht ... eine Entwicklung gemacht, einen kleinen Sprung in meinem Erwachsenenleben gemacht. Ein wenig hinaus aus dieser ungebundenen Phase nach dem Studium und im ersten Job; auf einmal ist alles ... sicherer. Fühlt sich mehr wie eine Zukunft an. Eine sichere Zukunft mit Tim. Ungläubig schaue ich Tim an, der mich glücklich angrinst, ehe er seinen Kopf wieder senkt, um mich zu küssen. Fordernd erwidere ich den Kuss und ziehe ihn näher an mich, bis wir fast ineinander verhakt vom Bett fallen.

HeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt