Kapitel sechsundvierzig

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Als ich die Tür am kalten Griff hinter mir zuziehe und den Verlag für heute abschließe, höre ich sofort das Kichern einer meiner Mitarbeiterinnen. Mit angespanntem Kiefer drehe ich den Kopf, woraufhin mein Herz einen Stolperer hinlegt. Unten am Fuße der Treppe lehnt Tim an meinem Auto, aber natürlich nicht alleine. Eine dieser Werbefrauen aus dem vordersten Teil des Büros knöpft ihren Mantel auf, wirft sich ihren Schal über die Schulter und klimpert übertrieben mit den Wimpern. „Wahnsinn! Ein echter Cop!", ruft sie laut aus und kichert, ich merke, wie ich sie am liebsten schütteln würde. Nicht einmal aus Eifersucht, sondern eher aus Verpflichtung den Frauen gegenüber. Was ist es bitte für ein dämliches Klischee, dass man einen Mann anbaggern muss, nur weil er Polizist ist – sprich einen beschützen kann?!  Vielleicht liegt es aber nicht nur daran, jedenfalls nicht bei Tim. Seine Haare fallen ihm heute etwas tiefer in die Stirn, wie immer nach einer schlaflosen Nacht, seinen Bart hat er gestern nicht mehr rasiert und seine Muskeln zeichnen sich deutlich unter der engen Winterjacke ab. Kopfschüttelnd stopfe ich meinen Schlüsselbund in die Seitentasche meiner Umhängetasche und gehe möglichst langsam die Treppen hinunter. „Hey", Tim grinst mich müde über die Schulter meiner Kollegin an, sodass sie zusammenzuckt. „Hey", erwidere ich etwas distanzierter. Es missfällt mir, dass er sich kein einziges Mal gemeldet hat und jetzt völlig übermüdet vor mir steht. Vor meinem Verlag. Und mit meiner Redakteurin flirtet. Oder sie mit ihm, wie auch immer. „Oh mein Gott, Frau Femer. Das ist Ihr ... Ich dachte immer ... ach, vergessen Sie es", die Brünette in ihrem teuren beigefarbenen Mantel lacht auf. „Was dachten Sie?", lasse ich es mir nicht nehmen, nachzuhaken. Tims Lippen umspielt ein wissendes Lächeln, das er mir zuwirft. „Ach, egal. Ich muss los!", wendet sie sich schnell ab, winkt locker aus dem Handgelenk heraus und schiebt sich hastig an mir vorbei; ihre Tasche baumelt natürlich über ihrem Handgelenk, sodass es mehr nach einer Shoppingtour in den Schlossarkaden aussieht. „Em, tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe", raunt Tim sofort und sieht mich fertig an. Sein Blick hat etwas Neues, das ich nicht mehr einordnen kann. Sofort spüre ich, dass sich etwas verändert hat. Aber was? „Immerhin hast du dich bei Maik gemeldet. Ist doch alles gut", erwidere ich und beiße mir auf die Zunge. Ich will ihm gegenüber einfach nicht zugeben, dass ich mir schon Gedanken um ihn gemacht habe. Aber vermutlich ist es besser so; je taffer er mich wahrnimmt, desto einfacher. „Sicher?", mustert mein Freund mich prüfend, ich nicke einfach: „Klar, hätte nur noch auf eine Antwort gehofft." „Ich weiß, ich schulde dir einige. Wäre es okay für dich, dass wir uns irgendwo etwas zu essen rausholen? Ich muss nachher wieder ins Büro und noch etwas Schlaf abbekommen ...", Tim gähnt. „Sicher", wiederhole ich seine Worte von eben und husche um das Auto, werfe meine Tasche auf die Rückbank und lasse mich selbst auf den Fahrersitz sinken; Tim steigt neben mir ein. „Wo steht überhaupt dein Wagen?", deute ich an, als ich den Schlüssel einstecke und zünde. Der Motor brummt laut auf und rattert, ehe ich langsam losfahren kann. „Noch beim Präsidium, Lucy hat mich hierher gebracht", Tim lehnt seinen Hinterkopf an die Stütze, „ich wollte nämlich etwas Zeit mit dir verbringen." „Süß?", ich grinse kurz rüber und biege nach links ab, um auf die Hauptstraße zu fahren. „Also gut, wo magst du hin? Und wie viel Zeit haben wir überhaupt?", kläre ich die Lage, während wir noch vor der roten Ampel stehen. Gerade, als ich aufs Gaspedal drücke, springt auch das Licht der Laternen draußen an. Kein Wunder, heute kam ich wieder einmal später als geplant aus dem Büro. Und Tim ist demnach seit mindestens dreißig Stunden wach? Besorgt streife ich ihn mit einem Seitenblick, als ich sowieso in den Rückspiegel schauen muss, dann konzentriere ich mich wieder auf die Fahrbahn, die mehr als voll ist. „Egal, such du etwas aus. Oder einfach Fastfood", Tim zuckt mit den Schultern und schließt die Augen, bis wir da sind. Die ganze Strecke von hier bis zum nächsten Mc Donald's schweigt er, döst einfach nur vor sich hin und vertraut darauf, dass ich ihn heile dorthin bringe.

„Fühlt sich komisch an", murmele ich, als ich den Wagen unter einem der Bäume parke. „Was genau jetzt?", fragt Tim und öffnet die Tüte, die er bis eben auf dem Schoß gehalten hat. Sofort steigt mir der fettige Geruch in die Nase, doch ich genieße ihn nur und schiebe meinen Sitz soweit nach hinten wie es geht. „Hier zu sein, im Schutz der Bäume und der Dunkelheit. Du weißt schon, diese mystische und geheimnisvolle Atmosphäre in dem Dunst der abgekühlten Oker und diesen unzähligen Geheimnissen, von denen es hier am Ufer wimmelt ...", mit gesenkter Stimme drehe ich mich zu ihm und schüttele dann den Kopf. „Hm, erzähl weiter, klingt nach einem guten Roman", erwidert Tim lächelnd und schnallt sich ab, ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Nach dem Essen vielleicht? Ich habe nämlich auch Hunger, der Herr", erwidere ich und greife vorfreudig in die Tüte auf dem Schoß meines Freundes. Zu greifen bekomme ich die Packung mit den Curly Fries, die ich so liebe. „Stimmt, ich habe ganz vergessen, dass ihr gestern Abend sicher verhungert seid, ohne meine genialen Kochkünste ...", für einen Moment legt er seine Bescheidenheit ab und ist ganz der selbstbewusste Junge von damals, dann verdunkelt sich sein Blick wieder. „Bild dir nicht zu viel drauf ein, du Spinner", ich stupse ihn über die Mittelkonsole an und greife in die kleine Papiertüte. Seufzend schiebe ich mir eine der gewürzten Kartoffeln in den Mund und seufze, Tim lacht. „Ich hab dich vermisst, Em", Tim sieht mich intensiv an. Zu intensiv, zu fordernd, als dass ich wegsehen könnte. „Du warst nur eine Nacht nicht da", entgegne ich ihm, vielleicht etwas zu trotzig. Doch Tim schüttelt nur lächelnd den Kopf: „Habe ich trotzdem, nach dem Fall ..." „Ah ja, willst du jetzt darüber sprechen? Oder nach dem Essen, das im Übrigen gerade kalt wird?", necke ich ihn und ernte als Antwort eine verzogene Miene. Dann schnappt Tim sich auch die beiden Schachteln mit den Nuggets und den Käseecken, die wir uns teilen. „Lass uns bitte über etwas anderes sprechen. Hey, wie war es gestern als Chefredakteurin?", weicht Tim dem sensiblen Thema aus, aber irgendwie ist das in Ordnung für mich. Scheinbar fällt dieser Fall ihm wirklich schwer und das habe ich von der ersten Sekunde an verstanden, in der er mich angerufen hat. „Ganz ehrlich? Super anstrengend. Mich nervt es, dass ich zu diesen ganzen Frauen nett sein muss ...", rede ich es mir ehrlich von der Seele. Tim hört nur aufmerksam zu und lacht manchmal auf, wenn ich ihm erzähle, was für Zickenkriege es förmlich in den letzten beiden Tagen gegeben hat. „Oh man, ich arbeite einfach lieber alleine. Nur für mich", füge ich hinzu und beiße herzhaft in eine der Ecken, woraufhin der Käse an meinen Zähnen kleben bleibt. „Tja, wie läuft es denn mit deinem Roman? Darf ich ihn lesen, wenn er fertig ist?", Tim lächelt mich an, während er in sein Nugget mit Ketchup beißt. Ein bisschen von der Tomatensauce bleibt an seinen Lippen kleben, sodass ich beinahe automatisch die Hand hebe. Wir schauen beide auf meine Finger, die in der Luft zwischen uns verharren. „Äh ja, aber erst dann", meine Stimme klingt etwas rauer; vielleicht von der abendlichen Stimmung und Müdigkeit, vielleicht wegen der Atmosphäre und Spannung zwischen uns. „Es dauert aber noch, ich komme seltener zum Schreiben, vor allem, wenn du mich andauernd ablenkst", grinse ich ihn frech an, Tim lächelt zurück. „Dann sollte ich dich wohl nicht mehr zu einem spontanen Da- äh Treffen abholen", flüstert er mir rau zu und schluckt seine Pommes hinunter, ich ziehe die Augenbrauen rauf. „Ach, solange es so affärenartig bleibt", raune ich zurück und werfe einen Blick nach draußen in die Dunkelheit, wo man das Auto sicher schon von Weitem sehen muss – vorausgesetzt, man sieht es überhaupt. „Für diese Bemerkung sollte ich dich eigentlich durchkitzeln", erwidert Tim rau und beugt sich zu mir, sein Geruch steigt mir intensiv in die Nase. Wirklich nur sein ganz eigener Geruch, kein Aftershave oder Deo mehr, dafür war er zu lange ohne. Aber ich mag die Art, wie er riecht: natürlich, erhitzt und stark. „Ach ja? Weil ich das hier als Affäre bezeichnet habe?", necke ich ihn weiterhin in diesem unschuldigen Unterton, Tim knurrt spielerisch und schiebt sanft die Schachteln auf der Mittelkonsole zu Seite. Abwartend sehe ich ihn an, er grinst und beugt sich zu mir, um nur einen Zentimeter vor meinem Gesicht anzuhalten. Seine blauen Augen blicken mich tief an und reißen mich in ihr Unwetter, mein Puls geht schneller und ich höre, wie das Blut durch meine Ohren rauscht. „Ich will nicht so sein wie deine anderen Typen. Lass mich niemals die Affäre sein, Em", wispert Tim und streift mit seinen aufgerissenen und trockenen Lippen meine. Trotz dieser harten Haut kann ich nicht anders, als meinen Kopf zu heben, damit unsere Münder sich nochmal und nochmal berühren. Sofort küsst Tim mich richtig, greift über die Konsole nach meinen Armen und zieht mich zu sich. Ich lasse es geschehen, erwidere den Kuss hitzig und leidenschaftlich, bis wir beide keuchen; außer Atem und weil wir beide an die feste Einrichtung des Autos gepresst werden. Doch Tim scheint lange noch nicht aufhören zu wollen, seine Hände wandern an meine Hüfte, dann stoppt er und sieht mich an. Intensiv blicke ich zurück zu dem fesselnden Blick und lasse mich darauf ein: Geschickt – obwohl ich das noch nie gemacht habe – klettere ich über die Konsole und knie mich mit auf Tims Sitz, er grinst mich an und greift nach oben, um das Licht auszustellen. „Braver Polizist", ziehe ich ihn frech grinsend auf und küsse ihn wieder. Heute kann ich nicht anders, als mich dem Gefühl hinzugeben. Die letzten Tage haben sich zu schwer angefühlt, um ihn nicht zu küssen. Die Wut, die ich bis eben empfunden habe, dass er sich nicht gemeldet hat, ist wie weggeblasen. Dafür spüre ich in meiner Brust nur noch die Sorge um ihn und die Möglichkeit, ihn wieder tagelang nicht zu sehen. Und ich bin nicht blöd, ich weiß, dass so eine tagelange Ermittlung ohne wirkliche Pause noch mehr zu Unfällen führen kann. Das macht mir Angst, auch wenn ich es Tim gegenüber niemals zugeben wollen würde. Tim erwidert den Kuss, doch er schmeckt anders. Langsamer, weniger leidenschaftlich. Seine Hände wandern nicht mehr über meine Hüfte, sondern ruhen auf meinem Rücken auf der Jacke und verschränken sich in meinen Haaren. Auch, als ich näher an ihn heran rutsche, intensiviert er den Kuss nicht, seine Lippen finden immer wieder meine, aber seine Zunge gleitet seltener in meinen Mund. Auch an seiner ganzen Art, wie er dasitzt, merke ich, dass er verkrampfter wirkt, zwischen meiner Hüfte und seiner ist noch eine beachtliche Distanz, die er wahrt. Ruckartig löse ich mich von ihm und blicke ihn an, Tim schaut mir nicht in die Augen, sondern richtet seinen Blick auf die Kette, deren Lederbänder man noch an meinem Hals sehen kann; der Rest steckt warm unter meinem Hoodie. „Hey", sanft tippe ich ihm durch die geöffnete Jacke an den Brustkorb, der wie immer in einem weißen Sweatshirt steckt. Tim hebt den Blick und schluckt. „Tut mir leid, ich ... ich kann heute einfach nicht", murmelt er mit belegter Stimme, was schon fast wie ein Geständnis klingt. Ich runzele die Stirn und mustere seine schuldbewussten und beschämten Augen. In meinem Kopf schwirren einige Fragen, die viel zu laut sind, um sie zu überhören, aber zu schwer auf meiner Zunge wiegen würden, um sie auszusprechen. Die lautesten drehen sich darum, warum er nicht kann – wegen des Falls oder etwa doch wegen Lucy, doch ich bringe sie nicht heraus. Ich will nicht die eingeschnappte übereifersüchtige Freundin sein, die ein Drama daraus macht, dass ihr Freund sie nicht küssen kann. Auf der einen Seite ist da dieses Verständnis, mit den Gedanken woanders zu hängen, sich nicht fallen lassen zu können und zu erschöpft zu sein, auf der anderen Seite kündigt sich meine Unsicherheit durch ein Ziehen im Bauch an. Noch immer konnte ich nicht vergessen, dass er mich damals betrogen hat – und wenn ich ehrlich bin, passt das alles zusammen: die Nacht wegbleiben, sich von Lucy fahren lassen, mich nicht küssen zu können, alles. Stopp – ich sollte damit aufhören, das weiß ich. Das ist die Vergangenheit, schärfe ich mir ein. „Und deswegen schaust du so?", entscheide ich mich, ihn anzuschmunzeln. „Du bist mir also nicht böse?", Tims Wimpern flattern nervös, als er mich anschaut. Ich grinse breit. „Man merkt, dass du ausschließlich One-Night-Stands hattest", antworte ich ihm stattdessen und klettere von seinem Schoß und auf die Fahrerseite hinüber, wo ich die Beine anziehe. „Hey!", Tim boxt mich in den Arm, „was soll das denn heißen?" „Nichts, nichts", wimmele ich ihn ab und angele nach der braunen Papiertüte, wo noch immer ein paar Pommes stecken sollten. „Hmhm, schon klar", er verzieht das Gesicht und legt den Kopf zur Seite, um mich intensiv anzusehen. „Em, wenn du von deinen verflossenen Typen anfängst, um mich zu ärgern, dann bist du zumindest eingeschnappt", stellt er mit rauer Stimme klar und wartet ab, ich beiße nur in meine kleine Pommes. „Und selbst wenn", brumme ich und schenke ihm ein salziges Lächeln, Tim seufzt. „Aber nicht genug, damit du nachhaken kannst. Also: Iss deine Nuggets fertig", weise ich ihn an, Tim zieht die Augenbrauen hoch, wobei seine Augenringe noch deutlicher zu sehen sind. „Ganz schön herrisch heute." „Immer, dir ist es nur noch nicht aufgefallen", ich strecke ihm die Zunge heraus, woraufhin Tim auflacht. Es tut verdammt gut, ihn lachen zu hören und zu sehen, wie er für einen Moment unbeschwert seinen Kopf nach hinten legt, sich an den Brustkorb fasst und in die Tüte greift, um mich mit den dünnen Servierten abzuwerfen. Ebenso lachend wehre ich mich, schleudere ihm ebenfalls Papiertücher entgegen und spritze ihn mit dem Ketchup an –natürlich darauf bedacht, nicht meine Sitze zu erwischen. Tim lacht, bis ich sein weißes Shirt treffe, dann sieht er mich strafend an, als er mit dem Finger darüber wischt. „Ups", ich schlage die Augen übertrieben auf und pruste dann los, mein Freund kneift die Augen zusammen und schüttelt dann lachend den Kopf. „Manchmal bist du echt anstrengend. Ich würde fast so weit gehen und es kindisch nennen", Tim schmunzelt mich warm an und ich zeige ihm nur die Reaktion, die er mir unterstellt: Ich strecke ihm die Zunge heraus. „Und du bist ein alter, verbitterter Mann, du Spinner", verpasse ich ihm die Retourkutsche und klopfe ihm auf die Brust, knapp neben den roten Fleck. „Nur weil ich sechs Monate und elf Tage älter bin ...", er will erst den Kopf schütteln, gähnt dann aber mit weit geöffnetem Mund. Automatisch muss ich ebenfalls gähnen – ist das menschlich oder habe nur ich die Schwäche, immer gähnen zu müssen, wenn jemand anders das tut? Selbst in Filmen geht es mir so. „Hast du denn jemals wieder deinen Geburtstag gefeiert?", frage ich und mache es mir auf meinem Sitz gemütlich. An seinem letzten Geburtstag, von dem ich weiß, hat er von Maik das Versprechen bekommen, dass die beiden sich mal richtig auf einer Feier betrinken und einen guten Abend als beste Freunde verbringen – tja, an das Ergebnis erinnere ich mich auch sehr gut. Schnell schlucke ich den bitteren Geschmack von Säure in meinem Mund hinunter und konzentriere mich auf Tims schläfrige Stimme, während ich nach draußen in die Dunkelheit schaue. „Nur mit meinen Eltern. Mein achtzehnter war der Schönste", murmelt er leise. Und der letzte, füge ich in Gedanken hinzu. „Erzähl", flüstere ich in die Dunkelheit, Tim schmunzelt hörbar, doch ich spüre seine Trauer und Melancholie. „Solltest nicht eigentlich du diejenige sein, die eine Gute-Nacht-Geschichte für mich erzählt?"

HeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt