Kapitel neunundvierzig

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„Wir können uns später noch Cocktails vorne am Port Louis holen, wenn du Lust hast", teilt Luna mir gerade mit, als sie in eins dieser Quarkbällchen beißt, die sie sich vom Bäcker geholt hat. „Warte, was? Wir müssen noch Auto fahren und ganz abgesehen davon – hast du gerade gesagt, dass wir dein Brautkleid heute nicht mehr kaufen?", ich sehe meine beste Freundin entgeistert an, die nur mit den Schultern zuckt und sich dann den Zucker vom Finger leckt. „Was soll's? Dir geht es nicht gut und diese Schnitzeljagd macht auch Spaß", grinst sie mich dann frech an und beißt nochmal vom warmen Teig ab, über den sie sich eben so gefreut hat. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass sie entweder schwanger oder sehr angespannt ist. „Luna, das kannst du nicht machen", protestiere ich sofort, sie lacht nur auf und schlendert um eine Vitrine herum. „Doch", nuschelt sie mit vollem Mund und wirft einen interessierten Blick hinter die Glasscheiben, an denen ein paar Spinnenweben kleben. „Oh, der Baumwipfelpfad ist neu", schmunzelt sie nur, ich seufze. Kurz würde ich am liebsten dieses Glasteil zerschlagen oder meinen Kopf dagegen hauen, aber ich lasse es. Stattdessen atme ich nur tief durch und trete neben meine beste Freundin, die Hände in meinen Jackentaschen vergraben und mein ausgeschaltetes Handy umklammernd. „Sorry, ich schweife ab. Okay, gut, ab zur Kugel", reißt sie sich selbst los; aber ich wäre heute auch nicht wirklich dazu fähig, die Kontrolle zu übernehmen. Meine Gedanken kreisen eigentlich nur um heute Morgen. Und heute Nacht. Schließlich müssen wir irgendwann zurück – und dann? Soll ich wieder mit Tim zusammenwohnen? Neben ihm schlafen? Das fühlt sich so falsch an, dass mir Tränen in die Augen steigen. Wütend schlucke ich sie hinunter und knacke mit dem Kiefer, bis die Leute mich schräg anschauen. Hauptsächlich sind es alte Leute, die wahnsinnig langsam bummeln gehen und die kleinen Schaufenster von den Souvenirläden bestaunen, sich Gedanken über ihre neue Frisur machen oder durch die Antiquitäten stöbern. Und hiermit wären wir wieder bei der Frage, warum ich von hier aus angerufen wurde. Weit und breit ist kein einziges Kind zu sehen – und selbst falls hier eines Urlaub macht, wird es sich von seinem Taschengeld vielleicht ein Eis kaufen und nicht auf die Idee kommen, fremde Handynummern in der Telefonzelle einzutippen. Nein, das war gezielt. Aber von wem? Niemand außer meiner Mutter hat noch meine Nummer; nur wäre die Frage, was sie hier tut. Zwischen all diesen alten Leuten. Wohnt sie hier? Hat sie hier Zuflucht gesucht? Verdammt, ich hätte einfach Tim fragen können. Er hätte im Handumdrehen alle Hotels abhorchen können und sämtliche Listen durchschauen können – aber jetzt ist es zu spät, ihn noch um irgendeinen Gefallen zu bitten. Sogar mit ihm zu reden. Das Einzige, was wir besprechen können, ist es, wer auszieht. Aber eigentlich liegt es an mir, die WG zu verlassen. Und das wiederum bereitet mir die nächsten Bauchschmerzen. „Shit, ich würde sagen, es gibt hier nichts Besonderes", reißt Luna mich aus meinen Gedanken. Gerade noch bemerke ich die kleinen Spielgeräte; beinahe wäre ich gegen dieses rote wippende Etwas gestolpert. Vor mir liegt diese sich drehende Kugel, von der Luna und Maik gesprochen haben; aber nichts anderes. Jedenfalls nichts Auffälliges: einfach nur diese bunte Bank, die vielen Bäume und die kleinen Läden. Nicht einmal die Telefonzelle entdecke ich sofort. „Was hast du erwartet?", entgegne ich, meine Stimme wird automatisch leiser. Meine Hoffnung wird weggespült, als hätte ich mich eben über das dünne weiße Geländer gelehnt und in die Radau gespuckt. „Kampfspuren? Verlorene Zettel? Ach, keine Ahnung, etwas mehr Hinweise als das", brummt Luna und wechselt die Hand ihrer Bäckertüte, um sich rückwärts auf die hüfthohe Kugel zu schwingen. Ihre Beine mit der löchrigen Jeans baumeln locker über dem Boden, ihre weißen Sneaker streifen über die Verankerung. „Scheiße", ich schüttele den Kopf, wobei mir meine roten Haarsträhnen ins Gesicht geweht werden. Der Wind nimmt zu, das Wasser rauscht lauter und ein paar Blätter rieseln auf uns hinunter. Betrübt folgt mein Blick den kleinen Blättern, die von dem großen Baum neben der Sportbar sind. Ich lächele matt. „Okay, einen Versuch haben wir noch", Luna scheint meinem Blick gefolgt zu sein, ich höre die Hoffnung in ihrer warmen Stimme. „Du gehst rein und fragst nach, ob sie etwas gesehen haben, während ich hier fertigesse", feixt sie und kichert leise. Eigentlich würde ich mich zu ihr umdrehen und sie von der Kugel schubsen, aber ich nicke nur und blicke nach links und rechts, um keine Senioren umzurennen, dann mache ich mich auf den Weg zum Eingang der kleinen Bar. Die Stühle vor der Bar sind unbesetzt, aber hinter dem schwarzen Holz sitzen ein paar Männer unter den leuchtenden Lampen des aufgehellten Tresens. Als sie mich kommen sehen, prostet der eine mir sofort zu und ruft dem Barkeeper zu, der sich zu mir dreht. Er mustert mich freundlich mit seinen warmen Augen und lehnt sich lässig über den Holztresen: „Na, was darf es sein?" „Eine praktische Information vielleicht?", gehe ich wesentlich cooler darauf ein als ich mich fühle. Sofort wecke ich sein Interesse, er zieht seine Augenbrauen hoch und wischt mit dem Lappen über die Theke. „Sicher, ich kann dir nahezu alles beantworten." Nur kann er das doch nicht, wie ich keine drei Minuten später feststellen muss. Zwar versucht er es mindestens zweimal, mich zu einem Bier und Pommes zu überreden, aber mein Entschluss steht fest, dass es zwar sehr verlockend wäre, meinen Frust bei einem Fußballspiel mit grölenden Männern und einem deftigen Schnitzel oder Burger hinauszulassen, aber nicht Sinn und Zweck unserer Fahrt hierher. Ganz abgesehen davon sitzt Luna draußen. Die, die eigentlich ein Brautkleid kaufen will. Und ich halte sie davon ab, während ich mich von dem freundlichen Kerl verabschiede und beteuere, dass es nicht schlimm sei, dass ihm die letzten drei Tage nichts oder niemand aufgefallen ist. Dabei würde ich am liebsten jeden dieser blöden Bistrotische draußen schnappen und gegen die Vitrinen schleudern oder über das Geländer in den Fluss befördern, aber das verdient weder der Tisch noch Tim. Es würde ihm nur die Bestätigung geben, dass er mich wirklich verletzt hat. Ja, verdammt, das hat er! Wie konnte ich nur so dämlich sein! Mich wieder auf ihn einlassen, ihm vertrauen, ihn in mein Herz lassen. Dabei hat er mich die ganze Zeit betrogen – jedenfalls seit dem Moment in der Dusche. Und dann noch eine Affäre. Wäre es wenigstens eine einmalige Sache gewesen ... Klar, ich hätte ihm nie verzeihen können, aber ich müsste mich jetzt nicht so dumm fühlen, ihm wieder auf den Leim gegangen zu sein. Obwohl er nicht einmal so wirkte, als ob – stopp! Ich darf mir nichts schönreden, im Gegenteil, ich sollte mir Vorwürfe machen! Wäre ich nicht monatelang so abgelenkt gewesen, hätte ich mich viel früher auf die Suche nach meiner Mutter machen können. Und sollen. Scheiße, es wäre mein Job gewesen, mich nach ihr umzusehen. Und falls dieser Anruf wirklich von ihr stammte, was bedeutet das für mich? Habe ich so sehr versagt? Verzweifelt verlasse ich diese Bar wieder und trete hinaus in die Bummelallee, in der Luna noch immer auf der steinernen Kugel sitzt und telefoniert. Als sie mich bemerkt, schaut sie fragend auf und deutet mit ihrer freien Hand, in der sie noch die Bäckertüte hält, an, dass sie noch ein paar Minuten bräuchte. Doch ich schüttele nur den Kopf auf ihre stumme Frage hin und schlendere zu ihr rüber, um mich auf die Bank fallen zu lassen. Kaum sitze ich einfach mal da, ohne Auto zu fahren oder ohne Aufträge an die anderen Redakteurinnen zu verteilen, fühle ich mich erschöpft. Kraftlos. Fertig. All diese blöden Gefühle von heute Morgen kommen wieder hoch, kriechen durch meine hängenden Arme und setzen sich in meinen schweren Beinen fest, als könnte ich sie nie wieder loswerden. „... klar, bis gleich", beendet Luna ihren Anruf und lässt langsam ihr Smartphone in der blauen Handyhülle sinken. „Deine Mum?", ich zwinge mich zu einem verständnisvollen Lächeln. Weiter so, ich sollte ihr den Tag nicht versauen. Sie ist meinetwegen hierher gefahren und keiner konnte ahnen, was heute geschehen ist. Na gut, ich hätte es wissen müssen. „Nein", flüstert Luna und beißt sich auf die Lippen. „Du hast mit Maik oder Tim telefoniert", stelle ich fest, während mir die nächste Frage, oder eher ein sehr ausdrucksstarker Fluch auf den Lippen liegt. „Ja, du hast dein Handy ausgeschaltet. Emma, die beiden kommen hierher", sie sieht mich entschuldigend an, ich kneife die Augen zusammen. „Ist das dein Ernst?! Wir suchen hier nach meiner Mutter! Sie hat mich womöglich angerufen! Und die letzte Person auf Erden, die ich hier brauche, ist Tim!" Scheiße, ich kann es mir nicht verkneifen, lauter zu werden. Die alte Dame in dem lilafarbenen Mantel sieht bereits zu uns, dann schüttelt sie den Kopf über uns „junge Erwachsene" und schiebt ihren Rollator weiter, ich seufze. „So ist es nicht, es gibt einen Notfall. Du weißt hoffentlich, dass ich es sonst niemals zugelassen hätte, Emma. Aber ... Tim muss sofort mit dir reden wie es aussieht", beschwichtigt Luna mich überfordert, wobei sie hastig von ihrer Sitzerhöhung springt und vor mir landet. Versöhnlich hält sie mir die Hand hin, widerwillig ziehe ich mich an ihr rauf. Kurz habe ich das dringende Bedürfnis, sie trotzdem in die Telefonzelle zu sperren oder sonstwo abzusetzen. Da fahren wir die ganze Stunde hier rüber, damit mein Freund – Exfreund – auch hierher düst, weil er mit mir reden möchte. Ja, klar. Als hätte ich jetzt nicht Wichtigeres zu tun. Und Luna erst. Gott, er sollte sich so schämen. Nach allem, was passiert ist, geht er nicht nur zu weit, mich zu verfolgen, sondern auch Luna den Tag zu versauen. Ihren Brautkleidkauf – nicht, dass mir das viel bedeuten würde, aber ich weiß, dass es für sie wichtig ist. Und das sollte er auch wissen. „Toll und jetzt? Im Ernst? Er fährt hierher und wir reden bei einer netten, idyllischen Tasse Kaffee oder was?! Und du und Maik? Er kauft jetzt mit dir das Kleid, weil Tim reden will?!", ich kann meinen Sarkasmus nicht unterdrücken. Bei meinen Worten zuckt Luna ein wenig zusammen, nervös knetet sie ihre zusammengeknüllte Tüte und sieht mich nicht direkt an. Erst, als sie sich scheinbar die richtigen Worte zurecht gelegt hat, räuspert sie sich: „Ja, ich werde mit Maik das Kleid kaufen. Er ist mein bester Freund, also ... Vielleicht ... keine Ahnung, hätte es eh sein sollen. Aber lass das meine Sorge sein, das mit dir und ... Tim ist jetzt wichtiger. Viel wichtiger." „Als deine Hochzeit?", ich schüttele verächtlich den Kopf. Für die Gehirnwäsche würde ich ihm am liebsten eine reinhauen. Doch als ich es mir vorstelle, wie ich meine Faust balle und ansetze, ihm ins Gesicht zu schlagen – ich kann es nicht. Ich kann nicht einmal dem imaginären Tim eine verpassen. Beschissene Gefühle. „Ja, es ist nur eine Hochzeit, Emma", Luna stößt mich vorsichtig in die Seite und wirft endlich ihre blöde Tüte in den nächsten Mülleimer. Dann geht sie weiter. Oder eher zurück Richtung Parkplatz. „Kommst du? Wir warten besser am Auto, du wirst deine Sachen sicher mitnehmen wollen", sie wirkt entschlossener, so viel entschlossener als ich. Dazu lächelt sie ein bisschen, fast zuversichtlich. „Nein, bitte, lass uns die Zeit nutzen. Okay, es tut mir leid, so leid, dass ich dich überhaupt hierher geschleppt habe und dass Maik jetzt mit dir shoppen geht. Und ich finde es echt mies, dass du die beiden hierher holst, aber gut, vielleicht hat das einen verdammten Grund. Aber bitte! Lass uns jetzt wenigstens die Stunde nutzen, ich will nicht einfach hierher gekommen sein -", ich gestikuliere wild in der Luft und schlage genervt einen der Äste bei Seite, die von den vielen Trauerweiden hängen. „Ist nicht mehr nötig", bevor ich weitere Fragen stellen kann, läuft Luna voraus.

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