Kapitel zweiundvierzig

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„Hey", begrüße ich Tim, als ich die Küche betrete. Mein Freund steht mit dem Rücken zu mir, wie immer trägt er ein enges weißes Sweatshirt, unter dem man jeden seiner Muskeln erkennen kann. „Hey", erwidert er heiser, kurz dreht er den Kopf zu mir. Ein Schmunzeln ziert seine Lippen; bei dem Anblick schlägt mein Herz schneller. „Und? Schon alle Geschenke hingestellt?", fragt Tim beiläufig, während er eigentlich dabei ist, den Fischersatz aus dem Backofen zu holen. Vermutlich ist es kein typisches Festessen für Heiligabend, aber etwas Besseres, mit dem wir alle vier zufrieden sind, ist uns nicht eingefallen. Also haben wir uns dazu entschieden, einfach vegetarischen Fisch mit Kartoffelbrei und Spinat zu machen – soll man an Heiligabend nicht sparsam essen? Jedenfalls kocht Tim das Ganze, während ich im Wohnzimmer alles fertig vorbereitet habe und Luna und Maik gemeinsam im Gottesdienst sind. „Welche Geschenke? Oh je, hätte ich etwa welche für dich haben sollen?", necke ich Tim und lehne mich an die Arbeitsplatte neben ihn, Tim grinst mich breit an, wobei er hastig mit den Backhandschuhen alles abstellt. „Na ja und wenn du keine hast ...", deutet er an und zieht demonstrativ an meinen Hoodiebändern, ich lache. „Sehr lustig. Wehe, du meinst das ernst", ich schüttele dennoch den Kopf über meinen Freund. Tim lächelt nur amüsiert und schaut mich intensiv an. „Nein, natürlich nicht. Ich bin einfach nur dankbar, dass wir zusammen Weihnachten feiern", raunt er und wirft seine Backhandschuhe in die Ecke; es scheppert, als die Zewarolle ebenfalls zu Boden fällt. „Feiern?", raune ich frech, Tim grinst. „Ja, ich dachte an ein wenig Cider", er räuspert sich und sieht mich gespannt an, ich nicke langsam. „Ein wenig viel Cider. Ich habe das Gefühl, es langsam wieder zu können", fügt Tim hinzu und legt langsam seine Stirn an meine, ich schmunzele. „Ich will nicht sagen, dass ich stolz auf dich bin, darauf habe ich kein Recht. Aber ich hoffe, dass du stolz auf dich bist", höre ich mich warm sagen, Tim nickt, sodass ich seine kleine Denkfalte noch deutlicher an der Stirn spüre. „Bin ich", erwidert mein Freund leise, ich grinse und streiche ihm kurz über die Wange – wie untypisch für mich. „Aber falls du es noch nicht kannst ... dann ist das nicht schlimm, das weißt du, oder? Es sollte dich nicht enttäuschen, außerdem ist es bestimmt umso schwieriger jetzt an Weihnachten ...", deute ich an und sehe Tim direkt in die tiefblauen Augen, in denen sich ein Sturm anbahnt; ich bemerke ganz genau, wie er sich ein wenig verkrampft. Wir müssen beide nicht weiterreden, weil wir wissen, was ich beinahe hinzugefügt hätte. Weihnachten – das Fest der Liebe und des Kitschs. Ganz abgesehen davon ist uns sehr wohl bewusst, dass wir morgen zu dem Grab seiner Eltern gehen werden. Um ehrlich zu sein, ich würde es keine Sekunde schaffen können wie Tim, mich zu beherrschen. Erst recht nicht, wenn ich mir vorstelle, ich müsste am nächsten Tag das Grab meiner Mutter besuchen. Meine Mutter. Von der ich nicht einmal weiß, ob sie noch lebt. Meine Wimpern beginnen zu beben, meine Lippen öffnen sich von selbst ein Stück. „Em? Alles okay?", Tim sieht mich besorgt an; ich muss blinzeln, um ihn erst richtig wieder registrieren zu können. „Klar, ich – wie weit bist du mit dem Essen?", lenke ich uns beide ab, Tim seufzt und weicht ein Stück zurück. „Fertig, es wartet nur darauf, von den anderen gegessen zu werden", brummt er, als er an den Reglern herumspielt, um den Spinat und die Kartoffeln noch weiter in den Töpfen warm zu halten. „Also hättest du jetzt theoretisch Zeit?", frage ich scheinheilig. Ich weiß gar nicht recht, was mit mir los ist. Seit wann bin ich so? „So kenne ich dich ja gar nicht", seine Blicke streifen mich verwundert und bohrend, aber genauso sehr hungrig. „Ich mich auch nicht", gebe ich zu und grinse, Tim lächelt ebenfalls, ehe er mit einem einzigen Schritt bei mir ist. Sofort legt er seine Hände um meine Hüfte, ich greife ihn fest an den Armen und beuge mich zu ihm. Hitzig prallen unsere Lippen aufeinander, alles in mir verwandelt sich in das gewohnte Feuer, das er seit unserem ersten Kuss mit fünfzehn Jahren in mir wecken kann. Fordernd drängt Tim mich gegen die Granitplatte, ich keuche erstaunt auf und grinse in den Kuss, ehe seine Zunge sanft über meine Lippen streicht. Ich gewähre ihm den Zugang und ziehe ihn fester an mich, sodass seine Brust hart gegen meinen Oberkörper drängt, unter meinem schwarzen Hoodie wird es mir viel zu schnell viel zu heiß. „Em, ich will nicht ausnutzen, dass du gerade an deine Mut-", nuschelt Tim in den Kuss, ich ersticke seine Worte mit einem weiteren bestimmten Kuss, sodass er grinst. „Halt bloß die Klappe", raune ich ihm zu und vergrabe meine Hände in seinem dichten Haar. Inzwischen kenne ich jede Stelle seines Körpers auswendig, selbst diesen kleinen Zwirbel an seinem Hinterkopf und die Narbe unter seinen Haaren, die so groß wie mein Fingernagel ist. Sobald meine Fingerkuppen über die unebene Haut fahren, drängt Tim sich näher an mich und lässt seine Finger unter mein Shirt gleiten. Federleicht und doch unfassbar energisch streifen seine Hände über meine nackten Seiten und gleiten unter den Saum meines Sport-BHs, was Tim amüsiert knurren lässt, als der Saum zurück auf seine Hände schnalzt. Ich lache leise und ziehe sein Kinn wieder nach oben, um wieder seine trocken Lippen zu streifen und mich dem Geschmack von Tim mit einem Hauch Gewürz, Spinat und Panierung hinzugeben.

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