Kapitel zwei

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Ich rühre mich nicht. Ich starre nur Tim an. Tim, der erwachsen ist. Tim, der nach elf Jahren vor mir steht und mich ansieht. Sein Blick ist unleserlich. Das Einzige, was ich feststellen kann, ist, dass er mich direkt ansieht mit seinen blauen Augen. Aber sie haben sich verändert. Es sind nicht mehr die schönen Augen, die man tief anblickt und auf einen endlos weiten See guckt oder auf ein ewiges Meer. Es ist mehr, als würde man in einen tobenden Ozean gucken, der einen gleich auf den Grund mitreißt und ertrinken lässt. Alles in seinem Blick tobt und wütet unruhig umher, lässt mein Herz schneller und schneller schlagen, lässt es irgendwann still stehen und erneut zerspringen. „Tim, das Fleisch", Maik räuspert sich und deutet auf den Herd hinter Tims breiten Schultern, wo Dampf aufsteigt und die Abdunsthaube beschlagen lässt. Tim sagt nichts, er dreht sich nur schnell zu der Pfanne und hantiert herum, es zischt laut. „Bleib du da stehen", Luna tritt neben mich, ihre Stimme ist bedacht ruhig und vorsichtig. Heuchlerisch. Als hätte sie nicht ganz genau gewusst. Als hätte sie nicht gewusst, was damals vorgefallen war. Doch das wissen wir alle vier, was passiert ist. „Ach ja?", meine Stimme ist nicht mehr meine Stimme. Aber bin ich überhaupt noch ich? Das, was ich mir die letzten elf Jahre versucht habe, zurückzuholen, droht wieder einzustürzen. „Ja, wir müssen die Scherben noch wegräumen", Lunas Stimme bleibt so sanft und gutmütig, als sie sich hinkniet und vorsichtig die großen Splitter aufhebt. „Lass mich das machen, Lu", Maik wendet sich ebenso von mir ab und kniet sich ritterlich neben Luna. Neben die Scherben, die ich verursacht habe. Auf einmal ist mir so unfassbar schlecht. Schlecht, wie sehr ich darauf reingefallen bin und Luna für die Wohnung zugesagt habe. Schlecht, dass ich hier nicht mehr wegkomme und auf dieses Zimmer angewiesen bin. Schlecht, dass genau die Leute vor mir stehen, die mich am meisten verletzt haben: meine damals beste Freundin, ihr Freund und mein Exfreund. Herzlichen Glückwunsch, das Quartett ist wieder komplett. „Kann ich kurz ...? Bitte ...", Tims Stimme ist mir viel zu nah. Automatisch fahre ich herum. Er steht dicht an mir, zwischen uns sind nur diese verdammten Fleischscheiben auf dem Teller. Ich merke schon, wie meine Finger zucken und ihm diesen dämlichen Teller gegen den Brustkorb oder ins Gesicht schlagen wollen, aber ich beherrsche mich. Er ist es nicht wert. Und es ist über ein Jahrzehnt her. Verdammt, ich sollte nicht an damals denken. Bevor die verdammten Bilder wieder aufsteigen. „Sicher", ich presse mich gegen den Tisch, um ihn nicht zu berühren. „Danke", seine Stimme ist erstickt, als er sich an mir vorbeischiebt. Dabei scheint er auch darauf zu achten, nicht in meine direkte Nähe zu kommen. Jedenfalls körperlich. Seine breiten Schultern dreht er von mir weg, sodass mir nur der Geruch aus seinem Nacken entgegen weht – der Gleiche wie damals. Instinktiv halte ich die Luft an, um nicht noch einmal Tims Geruch in meiner Nase, in mir, zu haben; dafür löst er zu viel aus. Zwar kann ich noch nicht genau sagen, was, nur, dass es etwas mit mir macht. Etwas Ungutes. „Mann, ich hab echt Hunger", Maik schlenkert seine Arme unbeholfen herum und geht um den Tisch herum. „Kannst du auch haben", Tim lächelt lässig. Kurz fällt mein Blick auf seine schmalen Lippen mit den Bartstoppeln, aber genauso schnell wende ich mich wieder ab. Nie wieder muss ich dorthin sehen. Als hätte Luna gespürt, wie schlecht mir ist, schiebt sie mir ein Glas herüber, während sie sich setzt. Und zwar Maik gegenüber. Ich schlucke. Der letzte Platz ist meiner. Gegenüber von Tim. Es ist nur ein Abendessen; ich schaffe das. Langsam setze ich mich auf den freien Stuhl, er wirkt wie neu. Sitzt sonst nie jemand hier? Mulmig spüre ich die kühle Holzfläche an meinen Oberschenkeln und trotzdem fühlt es sich an, als würde ich auf Kohlen sitzen. Es ist, als könnte ich fühlen, wie mein Blut durch meine Adern rast und pulsiert, es rauscht nur so durch meine Ohren, sodass ich fürchte, einfach nicht mitzubekommen, dass die anderen schon zu reden beginnen. Aber sie tun es nicht. Der Blick von den dreien liegt einfach nur ruhig auf mir, als wäre ich unberechenbar. Fairerweise muss man sagen, dass ich das vermutlich auch bin. Ich hätte es selber nie für möglich gehalten hat, ruhig hier sitzen zu bleiben und nicht aus dieser Wohnung zu rennen. Vielleicht hat mich mein Stolz davor bewahrt. Nichts sagt mehr über verletzte Gefühle aus als wegzurennen. Und genau diesen Triumph wollte ich Tim nicht geben. Heute hat er keine Macht mehr über mein Herz, heute kann er es nicht noch einmal brechen. „Was brauchst du für deinen Burger? Fleisch oder ein Gemüsepattie? Salat? Mais? Käse? Welche Soße?", Luna durchbricht die Stille und hält mir einen gelben Korb mit acht Brothälften hin, etwas zu schnell greife ich die erstbesten zwei heraus. „Also, die rote schmeckt am besten. Die hat Tim gemacht", Maik zu meiner Linken lacht unsicher über seinen Spruch, seine treuen Hundeaugen schauen hoffnungsvoll. Ich muss gegen meinen Willen grinsen. Sobald sich meine Mundwinkel bewegen, kichert Luna auch und legt den Kopf an ihre Schulter, wobei ihr die blonden und braunen Strähnen ins Gesicht fallen. Sofort löst Maik seinen bemühten Blick von mir und schaut Luna an. Seine Freundin. Wie schön und traurig zugleich sich das anfühlt, das zu denken. Bevor ich mir weiter den Kopf darüber zerbrechen kann, wie die Beziehung der beiden das alles überstanden hat, greife ich nach der Schale mit der weißen Sauce, die Maik mir nicht empfohlen hat und verteile sie auf meinem warmen Brötchen. Ich versuche, meine Aufmerksamkeit einzig und allein diesem hellen Vollkornbrötchen zu widmen und nicht meiner Kopfhaut, die zu prickeln beginnt, als würde jemand dorthin starren und versuchen, meine Gedanken zu lesen. Ohne aufzusehen, weiß ich, dass Tim mich anschaut. Den Gefallen, ebenfalls aufzublicken, tue ich ihm nicht. Mir tut es um jeden Blick leid, den ich ihm jemals geschenkt habe. Vor allem, weil es nicht einfach nur Blicke waren. Es war nicht einfach nur ein zufälliger Kontakt von zwei Augenpaaren, die sich gegenseitig schön finden. Es war tiefer. Es war so viel tiefer.

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