Kapitel dreiundvierzig

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„Em?", Tim reißt mich zärtlich aus meinen Gedanken, vorsichtig legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel, um mich aus meiner Erinnerung zu holen. Ich blinzele und grinse ihn dann an. „Ich – ja. Ich wusste nicht, dass deine Eltern genau diesen Spruch gewählt haben", flüstere ich dann rau, Tim nickt. „Ich habe es auch erst nach unserer kleinen Debatte damals erfahren. Aber ... vielleicht habe ich damals trotzdem so argumentiert, weil ich schon immer ihre Werte mitbekommen habe", Tim lächelt traurig und sucht meinen Blick, ich erwidere ihn sofort sanft. „Dafür bin ich euch auch unendlich dankbar", schmunzele ich, zum ersten Mal spreche ich wirklich mit den beiden Steinen. Die Begrüßung vorhin, klar, sie war ernst gemeint, aber nicht aus tiefster Seele, eher eine Unsicherheit. Das jetzt, das ist mein kompletter Ernst. Ich will es ihnen sagen, diese Energie und diesen Impuls aussprechen, in der Hoffnung, ihre Seelen spüren es irgendwie und irgendwo. Gerade, als sich eine Schneeschicht von Nicoles Grabstein löst, streifen Tims Lippen meine. Ich sehe sofort zu ihm und blicke ihm direkt in die Augen, er sieht mich voller Leidenschaft und Liebe an, sodass sich in mir alles zusammenzieht. Vorsichtig küsst er mich wieder, diesmal richtig. Ohne zu zögern erwidere ich den Kuss und presse meine Lippen energisch auf seine, er seufzt auf und schlingt die Arme um mich, als würde er mich nie wieder gehen lassen. Es ist verrückt, dass ich einerseits das Gefühl habe, mit Tim in unserer ganz eigenen Blase zu sein, andererseits fühle ich mich beobachtet und wie auf dem Präsentierteller zwischen den ganzen Gräbern und Leichen, die unter der Erde liegen. „Danke, Em", nuschelt Tim mit schwerem Atem in den Kuss, ich grinse ebenfalls hinein. „Bedanke dich nicht, du Spinner. Es ist normal und absolut in Ordnung", ich löse mich von ihm und knuffe ihn in die Wange, Tim schmunzelt: „Du hast gerade mit den Grabsteinen meiner Eltern gesprochen." „Liegt wohl daran, dass wir beide genau gleich durchgeknallt oder auch auch gleich normal sind", entgegne ich ihm lässig und klettere diesmal endgültig von seinem Schoß, Tim greift nur nach meiner Hand, als ich mich normal neben ihn setze. Er dreht sich ebenso ein wenig um, sodass wir gemeinsam auf das Familiengrab schauen können, unsere Finger verschränkt und die Schultern ein wenig aneinander gelehnt. „Tim, ich muss dir etwas sagen", murmele ich nach einer Weile, die er nur seinen Kopf auf meine Schulter gelegt hat und ich die Blumen gezählt habe, die sich auf der vereisten Erde befinden: dreiunddreißig, Tims Lieblingszahl. „Hm?", er streift mit seinen Haaren meine Mütze, ansonsten rührt er sich nicht. „Das damals. Ich habe genau verstanden, was du mir sagen wolltest mit amor omnia vincit. Kognitiv, meine ich. Ich konnte genau nachvollziehen, dass wahre Liebe nie kaputtgeht und wie du die verbale Trennung zwischen einer Beziehung und einem Gefühl gemeint hast. Und ich war sauer, dass du recht haben könntest. Aber erst jetzt habe ich verstanden, dass es wahr ist", flüstere ich in die Schneeflocken, Tim lächelt hörbar. „Warte, hast du gerade dem ganzen Friedhof gestanden, dass du auch an wahre Liebe glaubst? Die eiskalte und taffe, unnahbare Emma?", fragt er sanft, in seiner Stimme liegen Amüsierung und Milde. „Nein, definitiv nicht. Ich habe nur gesagt, dass ... ich an das zwischen uns glaube", suche ich nach Worten, um mich aus der Sache herauszureden, Tim lacht nur leise und verlagert sein Gewicht noch mehr auf mich, als würde er jetzt noch mehr die Kontrolle abgeben und sich mir hundertprozentig hingeben. „Und ich muss dich auch etwas fragen", flüstert Tim nach einer Weile Schweigen, in der nur kleine Flocken auf uns herabgerieselt sind und sich in Form von Tropfen von der Trauerweide gelöst haben. „Ja?", hake ich nach und blinzele das Grab von Nicole und Stephan an. „Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass das Einzige, das ich dir schenke, ein Hoodie sein wird?", Tim lacht leise, ich boxe nach links, wo ich seine Rippen erwische. „Hey, ich habe dir auch nur einen geschenkt", protestiere ich auch und sehe zu ihm, Tim hebt den Kopf und blickt mir tief in die Augen. „Das ist etwas anderes; dir schenkt fast jeder Hoodies, weil sie zu dir gehören. Aber dass du mir einen schenkst ...", deutet Tim sanft an, seine Lippen verziehen sich zu einem glücklichen Lächeln. Dann verschwindet es wieder. „Oder hast du schon mal einen an einen Mann verschenkt?", wird er unsicher, ich schüttele vehement den Kopf. „Nö. Und ganz abgesehen davon, mein Lieber, hast du gesagt, dass wir nicht mehr auf unserer Vergangenheit herumhacken sollen und jetzt bist du derjenige, der mich vor dem Grab seiner Eltern über meine Extypen verhört", ich sehe ihn prüfend an, Tim grinst. Ich kann mein eigenes Grinsen kaum verbergen, weil es mich freut, dass er ausnahmsweise mal nicht nur verlegen lächelt, sondern es schafft, ebenfalls frech zu grinsen. „Hm, es würde sie bestimmt auch brennend interessieren, wie viele andere Männer du letztendlich eigentlich gehabt hast", sagt er verlegen, ich lache leise. „Nope, das wollen sie nicht, die waren alle nicht so toll", beende ich die Fragerei. Typisch. Schließlich bin ich nun mal so stur gestrickt: Ich darf Tim über seine Frauen ausquetschen und eifersüchtig sein, aber er darf keine Fragen über meine Vergangenheit stellen. „Eine Frage noch. Hast du jemals einen deiner Mutter vorgestellt, Em?", raunt Tim, seine Stirnfalte vibriert ein wenig, sein Blick ist angespannt und entschlossen, falls die Antwort schlecht für ihn ausfällt. „Nein, wieso sollte ich das bei Affären tun?", entgegne ich und meine es komplett ernst. Das hätte nur für Verwirrung, falsche Hoffnung bei den Männern und Nörgeleien meiner Mutter gesorgt. Denn sie hat oft genug gefragt, wie es denn jetzt aussähe; sie wusste all die Jahre ganz genau, dass Tim der Einzige war, für den ich mal etwas empfunden habe. Und dass das auch noch echte Liebe war, das hat sie verrückt gemacht. Sie hat ihn gehasst. Klar, auch als sie ihn kennengelernt hat, mochte sie ihn als meinen Freund nicht, als Menschen an sich schon. Aber nachdem er mich damals betrogen und uns um das erste Mal gebracht hat, da hat sie ihn gehasst und verachtet. All die Jahre ging das nicht vorbei und falls ich ihr mal von meinen Affären erzählt habe, meinte sie jedes Mal schnippisch, dass der Kerl sicher alle Male besser als Tim sei. „Keine Ahnung, um deine Mutter glücklich zu machen? Sie hat mich immer angesehen, als wäre ich eine Gefahr für dich", murmelt Tim, er schaut betroffen und verletzt, dabei blitzen Schuldgefühle in seinen leuchtend blauen Augen hervor. Als wären kleine Lichter am Untergrund eines stillen Sees, der sich selbst ertränkt. „Warst du letztendlich auch", brumme ich trocken und schaue ihn fest an, Tim senkt den Blick, seine Wimpern zittern kurz, als müsste er sich sammeln. „Hey, jetzt bin ich hier", rudere ich schnell und greife nach seinen kalten Händen im Schoß. Ich glaube, ich habe ihn noch nie kalt erlebt. Als Antwort lässt Tim die Augen geschlossen und trifft dennoch sicher meinen Mund mit seinem, kalt schmiegen sich seine Lippen an meine und lassen mich nicht mehr los, ich erwidere den Kuss fest. Leidenschaftlich lässt Tim seine Hände in mein Haar wandern, krallt sich in meine roten Strähnen und zieht mir dabei unabsichtlich die Mütze vom Kopf, ich grinse in den Kuss. „Willst du echt, dass deine Eltern das sehen?", nuschele ich gegen seine harten Lippen, Tim knurrt leise und beißt mir spielerisch in die Lippe, ich muss eher lachen. „Du hast den Moment ruiniert", raunt er und grinst mich an, ich grinse doppelt so frech zurück und schnappe mir meine Mütze wieder: „Entkitschisiert vielleicht."

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