Schweigend steht Tim neben mir, als der dunkle Opel um die Kurve biegt. „Ich ...", er räuspert sich und raschelt wie immer mit den Händen in den Hosentaschen. „Nein", erwidere ich leise. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob er es bleiben lassen soll ... Oder bin ich dran, mich zu entschuldigen? Schließlich habe ich ihn gestern so heftig geschlagen und angeschrien. „Bitte, wir sollten reden, ich schulde dir noch eine Erklärung und dir scheint es besser zu gehen", presst Tim hervor, wobei er sich zu mir dreht. Ihm in die Augen zu schauen, die so viel Schmerz ausstrahlen, fällt mir auch nicht leicht. „Warum? Warum willst du jetzt auf einmal?", müde blinzele ich ihn an. Ich bin einfach nur noch erledigt, fertig mit der Welt. Und so unendlich müde von allem. „Weil ich dich nicht noch einmal verlieren will", Tim schaut fest. Es wirkt so, als würde er all seine Gefühle in diesen einzigen Blick legen. Der Ozean bäumt sich förmlich auf und errichtet eine Welle, die mich mitreißen soll. Aber ich bin nicht bereit, mich mitreißen zu lassen. Also schüttele ich den Kopf und stapfe zurück in die Wohnung. „Sie waren gestern viel zu laut", begrüßt mich diese Nachbarin, deren Namen ich mir immer noch nicht angeeignet habe. „Außerdem war, als sie angefangen haben zu streiten, schon Mitternacht. Also im Grunde war Sonntag, ein Ruhetag. Von Gott persönlich gegründet und Sie wagen es, - ", kopfschüttelnd und mit einer hohen Stimme unterlegt weist mich diese Frau zurecht. „Ja schön, tut mir leid. Nur leider bin ich nicht gläubig", seufze ich. „Wie entsetzlich! Außerdem gibt es die Nachtruhe!", kreischt die strenge Dame los, ihr Pferdeschwanz schwingt richtig in dem Takt ihres Gebrülls mit. „Oh, Frau Eisbein", Tim erscheint hinter mir in der Haustür. Natürlich beherrscht er im Gegensatz zu mir ein universelles, charmantes Lächeln, mit dem er Frau Eisbein zum Erröten bringt. Beinahe muss ich noch lachen, weil der Nachname die Faust aufs Auge trifft; gerade noch kann ich es mir verkneifen. „Herr Baua, wie geht es Ihnen nach diesem Angriff?", schleimt sie sich bei ihm ein, wobei sie besorgt seinen Arm streicht. Mit offenem Mund starre ich Tim an, der mich nur gepresst ansieht. Dass er nicht einmal sachlich mit einer Frau reden kann, ohne, dass sie scharf auf ihn ist!?! Knurrend wende ich mich ab und beeile mich, die Treppenstufen nach oben zu rasen. Eigentlich könnte ich diese Frau Eisbein niederbrüllen oder ihr gehörig meine Meinung sagen, aber ich habe nicht die Kraft, mich damit auseinanderzusetzen. Soll sie doch Tim anflirten und später wieder den Moralapostel spielen, wenn ihr Mann nach Hause kommt. Außerdem tut sie mir so den Gefallen, dass ich einen nötigen Vorsprung zu Tim habe. Die Zeit nutze ich, mir ein Handtuch zu holen und in meinem eigenen vorderen Bad duschen zu gehen. Ich bilde mir ein, dass Tim mehrmals gegen die abgeschlossene Tür klopft, aber das Wasser rauscht zu laut, sodass ich mir sicher sein könnte.
Mit nassen Haaren und in meinen Hoodie gekuschelt wage ich mich irgendwann aus dem Bad. Meine Füße hinterlassen noch seichte Spuren auf dem Boden, als ich über das Parkett tapse und die schmutzige Unterwäsche unter meinem Arm an mich presse. Aber es ist nichts zu hören, was mich beunruhigen oder nervös machen könnte. Aber nach Tim rufen, das möchte ich auch nicht. Also schaue ich nur unauffällig in sein Zimmer, als ich mich auf den Weg zu meinem mache: Es ist leer. Zufrieden, dass er scheinbar in der Küche ist oder noch unten bei Frau Eisbein – was mir mehr Übelkeit bereitet, als es sollte – , verziehe ich mich in mein Zimmer. Langsam ist es mein Zimmer, nicht mehr das Gästezimmer: Das Bücherregal, in dem bei meiner Ankunft noch Thriller standen, habe ich erst einmal ausgeräumt und den Inhalt ins Wohnzimmer verfrachtet, bis ich meine eigenen Romane hinein gestellt habe – ganz vorne stehen natürlich die Bücher von Jane Austen. Danach habe ich meine Deko verteilt, was sich nur auf ein paar Kerzen und Haken beläuft. An das Aufhängen von Bildern habe ich mich noch nicht gewagt; es wäre schrecklich, ein Foto von meiner Mutter an der Wand zu haben, aber nicht zu wissen, wo sie ist. Also hängt noch gar nichts an der Wand, bis auf ein Plakat, das ich mal selbst beschriftet habe – Fighterin. Die eingedeutschte Version meiner liebsten Eigenschaft wurde mein Lieblingswort, als ich Hey aus meinem Wortschatz verbannt habe. Oft habe ich darüber nachgedacht, mir dieses Wort als Tattoo stechen zu lassen, aber nie war ich mir sicher. Vielleicht bin ich im Grunde ja doch nur eine feige Frau, die vor ihrer Vergangenheit und ihrem Exfreund davon läuft. Verzweifelt lasse ich mich auf den Schreibtischstuhl fallen, auf dem ich etliche Hoodies gestapelt habe und jetzt platt sitze, während ich den Internet-Explorer auf dem Laptop aufrufe. Ich weiß keinen anderen Ausweg, als wieder nach Wohnungen zu suchen. Ich kann nicht ewig in dieser WG wohnen bleiben, das werden Luna und Maik auch nicht wollen. Ich bin also quasi dazu gezwungen, eine Wohnung mit nicht allzu hohem Budget zu suchen. Von den vorher angefragten Vermietern hat mir bisher jeder abgesagt. Meistens läge es daran, dass ich „als Frau meines Alters sicherlich nicht allzu lange in einer Ein- oder Zweizimmerwohnung bleiben würde". Nichtsdestotrotz brauche ich eine Wohnung – und zwar dringend. Schließlich ist nicht einmal geklärt, ob Luna und Maik dann in der Wohnung bleiben oder sich eine Neue suchen, und egal, welche Variante es ist, müsste ich am Ende mit Tim irgendwo wohnen bleiben. Wo ist er überhaupt? Ein flüchtiger Blick auf die Uhr sagt mir, dass es jetzt schon drei Stunden her ist, seit das Paar losgefahren ist. Und in der Zeit, in der ich duschen, fluchen und Wohnungen suchen war, habe ich noch kein Geräusch gehört. Wider Willen mache ich mich doch auf die Suche, die ganze Etage nach ihm abzusuchen, aber mein Exfreund bleibt verschollen. Kurz bin ich davor, eine der beiden Nummern auszuprobieren, die Maik mir gegeben hat, aber dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Es wird Tim schon gut gehen. Da finde ich den Zettel auf dem Esstisch, in einer unordentlichen blauen Schrift steht ein schnödes „Bin auf einem Einsatz. PS: Ich habe Nudeln mit Soße gemacht und dir in den Ofen gestellt" da. Erstaunt drehe ich mich in den anderen Teil des Raums, in dem das Licht des Backofens tatsächlich leuchtet und ein Topf darinnen steht. Vorsichtig mache ich die Klappe auf und schnuppere daran, was ein fataler Fehler ist. Sofort knurrt mein Magen verlangend, als mir der eindeutige Geruch von Spaghetti Bolognese in die Nase steigt. Oh nein. Egal, wie ich mit Tim umgehe und ihn abweise, er kocht mir noch etwas zu essen, bevor er verschwindet. Und dann auch noch mein Lieblingsessen. Was ist, wenn es wahr ist? Wenn er mich noch immer so liebt, wie er gesagt hat? Aber kann er mich damals geliebt haben, wenn er mich damals betrogen hat? Mit zusammengekniffenen Lippen hebe ich den heißen Topf aus dem Backofen und suche mir danach einen Teller aus dem Geschirrschrank, der noch immer dank Luna gefüllt ist. Plötzlich fühle ich mich noch schrecklicher als eh schon, als ich aus dem Geschirr meiner besten Freundin das Gericht esse, das mein Exfreund mir zubereitet hat. Beide haben es getan, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Und dann schmecken mir die Nudeln nicht mehr, egal wie gut Tim sie gekocht hat. Schluckend nehme ich noch eine Gabel, auf die ich umständlich die Spagetti wickele, dann greife ich nach meinem Handy, das in meiner hinteren Hosentasche steckt. Hastig gebe ich den Code ein, den Geburtstag meiner Mutter, dann öffne ich ein neues Nachrichtenfeld. Mit aufgeregten Fingern tippe ich eine der beiden Nummern ein, die auf dem Zettel steht. Auf gut Glück. An die obere Handynummer sende ich meine Nachricht ab: Danke. Eine Antwort kommt den ganzen Tag lang nicht.

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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...