Zweiundzwanzig,dreiundzwanzig, vierundzwanzig, ... mit pochendem Herzen zähle ich die Sekunden, die über der angegeben Zeit liegen. Natürlich warte ich nicht mal eine halbe Minute vor dem Büro meiner künftigen Chefin – falls alles gut geht – und trotzdem bekomme ich fast eine Panikattacke. Vielleicht hat sie es sich anders überlegt, vielleicht nimmt sie die Bewerberin, die mir im Flur entgegenkam. Jedenfalls sah sie wesentlich femininer aus als ich. Und irgendwie geht es ja bei diesem Unternehmen um Weiblichkeit. Oder um Stärke und Authentizität, jedenfalls setzte ich genau darauf, andernfalls habe ich hier keine Chance. Beinahe hätte Luna mich heute Früh doch nicht in dem Outfit gehen lassen, das wir vorgestern zusammen ershoppt haben. Aber ich bin einfach nicht die Frau, die in einem Hosenanzug aufläuft, wenn sie kein Kleid anziehen möchte. Ich bin eher diejenige, die sich in eine ungewohnte schwarze Bluse, eine enge Jeans quetscht, Sneaker und eine Lederjacke anzieht, ohne zu wild zu wirken. Hoffe ich. „Bist du die Neue?", eine männliche Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, die sich vorstellen, wie diese dicke Holztür gleich geöffnet wird. „Wie bitte?", ich fahre herum und starre in das Gesicht eines charismatischen Typen, der mich geradewegs mit seinen bernsteinfarbenen Augen anstarrt. Instinktiv trete ich einen Schritt zurück, als er so nah an mich herantritt. Sein wachsamer Blick folgt mir langsam und er grinst, als er mich diesmal ganz mustert. „Ob du die Neue bist. Für die Stelle", schon wieder duzt er mich, was aber vermutlich auch legitim ist: Er wirkt maximal drei Jahre älter als ich, aber selbst das kann ich mir bei dem kindlicheren Gesicht und den wenigen Barthaaren schwer vorstellen. „Weiß ich selber nicht, ich muss erst noch zu dem Vorstellungsgespräch. Wieso?", ich verschränke automatisch die Arme vor der Brust. Seine Blicke sind mir irgendwie etwas zu aufdringlich. Nicht direkt anbaggernd, eher forschend im negativen Sinne. „Ich bin Sid. Der Hausmeister ...", er hält mir die große Hand direkt unter die Nase und sein Daumen zuckt ein wenig, als ich nicht sofort einschlage. „Okay", ich ringe mich zu einem Lächeln ab und muss mich beherrschen, nicht die Zähne zusammenzubeißen, was wohl etwas auffällig wäre. „Und der Coolste hier im Verlag", Sid lacht über seinen eigenen Spruch und entzieht mir endlich seine verschwitzte Hand, deren Schweiß bestimmt immer noch in meiner Handinnenfläche klebt. Mit einem möglichst neutralen Gesicht wische ich meine eigene Hand an meiner Hose ab, was Sid nicht wirklich bemerkt. „Okay", wiederhole ich. Langsam muss ich mich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. „Und du?", er stopft seine Hände in die Hosentaschen seiner Handwerkerhose mit braunen Streifen. „Emma. Auch ziemlich cool", ich räuspere mich und schiele zur Uhr, in der Hoffnung, dass er es langsam bemerkt. Lieber würde ich mich jetzt noch auf das Vorstellungsgespräch einstellen oder einfach meine Ruhe haben; Menschen nerven mich extrem schnell und Männer oft noch schneller. Vor allem so aufdringliche Typen wie dieser Sid - er ist mir zu extrovertiert und neugierig. „So siehst du auch aus", dieser Sid grinst mich breit an. Genervt verdrehe ich die Augen, als die Tür aufgerissen wird. Vor mir steht eine lächelnde Frau mittleren Alters oder eher älter: Mit ihren bunten Haaren, die so gar nicht zu ihrem eher strengeren Erscheinungsbild von dem dunklen Jumpsuit und den hohen Plateuschuhen passen, kann ich sie gar nicht einschätzen. Doch sie bringt mir sofort eine Freundlichkeit und Wärme entgegen, von der ich ganz überrascht bin. Bevor ich überhaupt zu Wort komme, beginnt sie bereits: „Kommen Sie rein, meine Liebe. Und das sage ich nicht zu jeder Bewerberin, die meisten schaffen meine Sid-Prüfung gar nicht erst", sie lacht warm und bittet mich mit einem Winken hinein, sofort stoße ich meine Sneaker von der Wand ab und eile mit in ein hell erleuchtetes Büro. „Sid-Prüfung? Sie haben ihn extra vor den Raum bestellt, damit er Bewerberinnen nervt?", frage ich ungläubig, aber bin irgendwie beeindruckt von der Genialität und Gerissenheit dieser Frau. „Haargenau, meine Liebe. Und ich möchte nur starke und emanzipierte Frauen in meinem Verlag, die ihm zwar die Stirn bieten, aber auch einen Hausmeister mit Respekt behandeln. Die mit jemandem wie Sid umgehen können", mit einem eleganten Überschlagen der Beine lässt sie sich in einen riesigen Sessel fahren und mustert mich. „Wann könnten Sie denn theoretisch anfangen, Emma?", sie klappt meine schwarze Bewerbungsmappe zu, für die ich eine wirklich gute Bewertung von ihr weitergeleitet bekommen habe, nachdem sie scheinbar das Wichtigste nochmal überflogen hat. Mit großen Augen gucke ich sie erst einmal an, bevor ich grinse und antworte.
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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...