Es fühlt sich natürlich an, als ich die Wohnungstür aufsperre. Schmunzelnd streiche ich über die paar Lederanhänger, die inzwischen mit dem Autoschlüssel an dem Bund baumeln. Mindestens einer davon ist ein Geschenk meiner Mutter. Gerade, bevor ich mir auf die Lippen beißen kann, wird die Haustür aufgezogen. „Hey", Tim lächelt mich nervös an, er hat bereits seine braune Lederjacke übergezogen. „Hey", ich räuspere mich und quetsche mich durch den Türspalt, um ihn genauer zu betrachten, doch wie immer trägt er nur ein schnödes weißes Shirt unter seiner Jacke. Selbst die verwaschene blaue Jeans und die weißen Sneaker sind typisch, nichts, was auf einen Besuch bei einem Psychologen hinweist. Ich weiß aber auch nicht, was ich gedacht habe. Keine Ahnung, ob man sich für so etwas anders kleidet oder ob sich manche Menschen dafür verstellen. Tim sich jedenfalls nicht. „Sorry, dass ich so spät bin, Sid hat noch Hilfe gebraucht, ich musste ihm kurz etwas halten", schnell wende ich mich ab, weil der Anblick von Tim mich so verwirrt. „Hm, mit Sid also", Tim verzieht das Gesicht übertrieben, was mich schmunzeln lässt. Seit unserem Chat vorgestern, in dem ich ihm die Bilder von der Kneipe geschickt habe, in die ich mit Sid gehen werde, ist Tim irgendwie entspannter. „Hmmm. Und du? Wann bist du wieder im Büro?", frage ich beiläufig, während ich meine Arbeitstasche in der Ecke abstelle und meine Jackentasche abtaste – Handy, Geldbeutel, Schlüssel, alles da. „Wenn alles gut läuft in einer Woche, aber dann darf ich nur im Besprechungsraum sitzen, ich darf nicht einmal beim Verhör dabei sein", grummelt Tim und zieht die Nase kraus, was mich auflachen lässt. „Niedlich", kommentiere ich und klopfe mir auf die Oberschenkel, „können wir dann?" „Du hast es aber eilig, meinen Psychologen kennenzulernen", schmunzelt Tim, ich zucke mit den Schultern. Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich aufgeregt. „Bin bloß nervös", ich atme tief durch und lächele Tim halbherzig an, bevor ich wieder die Tür aufstoße und die Treppe heruntereile. Etwas langsamer folgt Tim mir, nachdem er die Tür laut ins Schloss fallen lässt. Im Übrigen knallt es so laut im Treppenhaus, dass ich mich wundere, dass diese Eisbein noch keine Beschwerde mit ihrer hellen, schnodderigen Stimme eingereicht hat. „Ach ja? Warum bist du denn aufgeregt? Sollte nicht ich aufgeregt sein?", Tim tritt durch die Haustür, die ich ihm wortlos aufhalte. „Das klingt bescheuert", murmele ich, während ich mir extra die Haare vom kalten Wind ins Gesicht wehen lasse. Der Marsch zu dieser Praxis wird verdammt kalt – unter Umständen ist es unter meiner Lederjacke doch etwas frisch. Doch zurückgehen will ich auch nicht, weil wir meinetwegen zu spät kommen werden, also lege ich die Arme um mich selbst und trotte auf dem orangenen Weg entlang. Die bunten Blätter scheinen alle über Nacht herabgerieselt zu sein, wie mit einem Schalter ist plötzlich ein kalter Hebst eingebrochen. Nur wenn man den ganzen Tag wie ich im Büro sitzt und der einzige Weg da draußen der zum Auto und zurück ist, bemerkt man scheinbar Vieles nicht. „Was? Das, was ich sage, oder das, was du nicht sagen willst?", hakt Tim nach, seine Lippen sind zu einem rötlichen, gut durchbluteten Strich verzogen. „Meine Gedanken. Ach, ich hatte einfach die kurze Befürchtung, dass ich ... na ja ... entweder selber zum Fall werde oder mich das alles wieder an meine Mutter erinnert. Ich will das nicht noch einmal durchleben, was damals geschehen ist", flüstere ich in die kalte Luft. Automatisch rückt Tim ein Stück näher, sein Arm berührt meinen sanft. „Das wirst du nicht, ich bin bei dir", behutsam streifen seine warmen Finger über meinen Handrücken. Sie aber nicht. Denn wenn sie es wäre, müsste ich nicht befürchten, dass etwas passiert ist. Aber ich schweige und schlinge die Arme noch fester um meinen Oberkörper als könnte ich dadurch verhindern, wie die Kälte in mich hineinkriecht. „Weiß der Typ eigentlich, was bei dir in den letzten Tagen passiert ist?", wechsele ich ein wenig das Thema, was mich nicht wirklich beruhigt. Stattdessen achte ich lieber auf die vielen Straßenschilder und Seitenstraßen, die Braunschweig kennzeichnen. „Nope, hat sich nicht ergeben. Ich meine, klar, nach dem Schuss wurde ich im Krankenhaus gefragt, ob ich mit einem Psychologen sprechen will, um das alles zu verarbeiten, aber ich war nicht drauf angewiesen", erklärt Tim und biegt scharf rechts ab, gerade noch so husche ich hinterher. „Sicher?", besorgt mustere ich sein Profil, dessen Haarfarbe fast die gleiche Farbe wie die alte Backsteinwand dahinter hat. „Em", Tim dreht sich zu mir und wirft mir einen lebhaften, intensiven Blick zu, der mich scharf die Luft einsaugen lässt.
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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...