Kapitel achtundzwanzig

53 6 0
                                    

„Erst einmal", murmelt Tim leise, ich schlucke. Nervös kralle ich meine Finger in die Tischplatte, als Luna und Maik langsam wieder an den Tisch kommen. Nur entfernt nehme ich wahr, dass beide kleine Tüten in den Händen halten – die Farbe könnte ich gar nicht benennen. „Wann das denn?", hakt Luna nach, als sie sich besonders leise wieder auf ihren Platz setzt. „Gestern", brumme ich. „Das ist doch toll. Sagt bloß, wir haben euch unterbrochen!", Maik lehnt sich lachend zurück und strahlt nur so. „Nein nein", ich runzele die Stirn. Was denkt er denn bitte? „Schade", feixt Maik weiterhin, dieses Mal kichert Luna auch. „Also ich freue mich auch, wenn ihr euch öfter trefft", lächelt meine beste Freundin mich stolz an. „Leute", betont schaue ich besonders Luna an, die langsam verstummt. Ihre erst so begeisterte Miene verändert sich schlagartig in eine besorgte, als würde sie fürchten, dass ich mir das gleich anders überlege. Um ehrlich zu sein, warte ich auch darauf, dass ich plötzlich wieder zu Vernunft komme oder sich mein Verstand wieder einschaltet. „Genau, was habt ihr denn jetzt mitgebracht?", fragt Tim mit einer leicht heiseren Stimmen, ich sehe besser nicht zu ihm hinüber. „Perfekte Frage, Mann! Schließlich seid ihr gleich die glücklichsten Tassenbesitzer der Welt", lacht Maik und kramt in seinem kleinen dunklen Stoffbeutel, auf dem ein Piratenlogo abgedruckt ist. Ein paar Sekunden voll Kruschteln später überreicht Maik uns feierlich je einen Becher mit einem Anker darauf. „Falls wir alle vier mal auseinander ziehen, haben wir immerhin die Tassen, mit denen wir immer aneinander denken. Bei jedem Frühstück", lächelt Luna melancholisch, als sie uns zeigt, dass das Paar bereits die Gleichen hat, nur in blau anstatt grau. „Und ich dachte, ihr würdet einfach belanglose Souvenirs mitbringen", grinse ich sie frech an, sofort tritt mich Luna spaßeshalber. „Süßer Kampfzwerg, nicht wahr?", neckt Maik sie auch noch, sofort brechen die beiden Männer in schallendes Gelächter aus, während wir Mädels uns genervt anschauen. „Ich hab dir jedenfalls auch noch was anderes mitgenommen. Und ganz viele Fotos. He, können wir nicht ein Handy an den Fernseher drüben anschließen?", fragt Luna sofort; sie ist mehr als in ihrem Element. Sofort stimmt ihr Verlobter dem Ganzen zu und springt auf, wobei er noch fast die Tassen mit vom Esstisch reißt, wenn Tim sie nicht noch an Henkel fangen würde.

Keine zehn Minuten später sitzen wir zu viert auf dem riesigen Sofa gegenüber vom Fernseher, den Maik steuert. Gähnend tippt er auf die Tasten der Fernbedienung, während Luna begeistert zu den Fotos und Videos erzählt, die wir sehen. Die Augen des Paares leuchten richtig in dem flimmernden Licht des Flachbildschirms, während wir hören, wie die beiden einen Krebs gefangen haben oder noch einem Konzert an den Wellen gelauscht haben. Je weiter wir in der Erzählung fortschreiten, desto müder werde ich. Die Nacht mit Tim hängt mir noch immer nach, genau wie die Lust, mich auf Tagträume einzulassen, wo die Bilder mir so viel Inspiration liefern. „Hey, nicht schlafen", flüstert Tim mir zu, der selber den Arm auf seinem verbundenen Oberkörper abgelegt hat. Noch immer kann man den weißen Verband deutlich unter seinem engen Shirt sehen, nur sickert immerhin kein Blut mehr hindurch. „Aus! Nicht reden!", Maik wirft seinem Kumpel ein Kissen an den Kopf, sofort stöhnt Tim übertrieben auf. Komischerweise verwirrt mich das Geräusch von Tim mehr als es sollte. Ohne dass ich es verhindern kann, tauchen Bilder aus der Vergangenheit vor meinem inneren Auge auf, von denen ich nicht einmal mehr wusste, dass sie noch existieren. Aber da sind diese Erinnerungen, wie wir uns tief in die Augen geschaut haben, als er mir gegenüber lag und – ruckartig setze ich mich auf und starre lieber wieder auf den Fernseher. Doch so richtig auf das Selfie in dem Lokal kann ich mich nicht konzentrieren, noch immer hallen Geräusche in meinem Ohr wider. Blinzelnd versuche ich, bei der Sache zu bleiben, aber immer wieder rauschen Lunas Worte nur so durch meine Ohren, genau wie ich damals immer in der Uni saß und alles ausgeblendet habe – einfach dagesessen und genickt, als würde ich zuhören. Nur dass ich jetzt nicht nicke, sondern grinse. Und schon halb auf dem Kissen einschlafe, das ich mir auf der Kante des Sofas zurechtgelegt habe. Umso mehr entspanne ich mich, als ich irgendwann gar nicht mehr auf die Wand mit dem Fernseher schaue, sondern noch eine Weile Tim betrachte, der ebenfalls zu mir schielt. Sein Blick verdunkelt sich, was mein Herz schneller schlagen lässt, aber als ihm zuerst die Augen zufallen, weiß ich, warum er so geguckt hat. Aber mir geht es nicht anders, die Müdigkeit überrollt mich immer mehr, sodass ich auch, egal wie stark ich bin, dem Ganzen nicht mehr standhalten kann. Noch während Luna in einer angenehmen, erzählerischen Tonlage berichtet, schlafe ich ein. Es ist, als würde auf einmal die ganze Anspannung von mir abfallen; als wäre das hier alles nicht mehr einzig alleine meine Verantwortung. Erst jetzt kapiere ich erst richtig, dass ich die meiste Zeit so in einer halb-acht-Stellung war, weil ich die volle Verantwortung für Tim getragen habe und mir wahnsinnige Sorgen gemacht habe. Aber jetzt sind Luna und Maik da, die beiden albern mit uns herum und verhalten sich wirklich so, wie sich beste Freunde benehmen. Bei den beiden fühle ich mich auf einmal sicher, so sicher, dass ich alles abgeben kann – ich muss nicht mehr stark sein und Tim pflegen. Da ist auf einmal dieses Gefühl von Freiheit, das sich in mir breit macht: Dadurch, dass Tim nicht mehr von mir abhängig ist, kann ich zur Ruhe kommen. Und mich fragen, ob das der einzige Grund war, warum ich ihn geküsst habe. Nur fürchte ich, dass wir beide wissen, dass es definitiv kein Mitleid ist – im Gegenteil. Seine ebenso starke und unerschütterliche Kraft zieht mich an und fasziniert mich – weil er so ist wie ich.

HeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt