Kapitel fünf

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Meine geliebte Tochter – Emma – , es tut mir leid, dir keine weitere Erklärung geben zu können, warum ich gehe. Es hat etwas mit deinem Vater zu tun, mehr kann ich dir nicht sagen, auch wenn du es verdient hast. Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen. Du warst eh zu lange für mich da. Nun bitte ich dich, dein Leben zu leben. Verlasse diese Wohnung, ziehe um, suche dir einen Job, den du liebst, gehe wieder unter Leute. Lebe das Leben, von dem wir beide immer geträumt haben. Sei frei, sei du selbst, meine starke, unabhängige und kluge Tochter. Sei die wilde Frau, die du schon als Kind sein wolltest und in mir gesehen hast. Ich warte darauf, dich irgendwann wiederzusehen, meine Kämpferin. Aber versuche nicht, mich zu finden. Die Zeit wird kommen. In unendlicher Liebe.

Mir läuft eine einzelne Träne die Wange hinab, als ich den verknickten Zettel wieder und wieder lese. Die letzten Tage habe ich ihn so oft gelesen, bis ich die krakelige Schrift gar nicht mehr entziffern konnte, weil jedes Mal etwas mehr an salzigen Tränen darauf getropft ist. Genauso oft habe ich den affigen Brief wieder zusammengeknüllt und in die Ecke gepfeffert, um ihn wieder zu holen und lautlos zu schluchzen. Vielleicht bin ich einfach nicht diese Kämpferin, von der sie immer gesprochen hat. Vielleicht bin ich ja doch schwach. Wütend schmettere ich meine Faust gegen die Wand. Ein pochender Schmerz durchzuckt meine Finger, als ich den harten Putz an meinen Fingerknöcheln spüre, die ich zweifellos gequetscht habe. Zitternd öffne ich vorsichtig meine Faust wieder und starre auf die roten Finger, die ich nicht ganz ausstrecken kann. Panisch drücke ich meine Hand in das kühle Kopfkissen unter mir und verziehe das Gesicht. Toll gemacht. Ich fahre herum, als die Tür aufgerissen wird. Tim schaut mich an und atmet tief aus, als er mich da sitzen sieht. „Geht es dir gut?", fragt er vorsichtig, langsam kommt er auf mein Bett zu. Sein Blick hängt ein wenig unterhalb meiner Augen, wo ich das letzte Nass meiner Träne vermute. „Geh weg", ich weiß mir nicht anders zu helfen, als meine gesunde Hand fest um den Brief zu schließen und mit der anderen Hand grob nach dem Kissen zu greifen und es in seine Richtung zu schleudern. Er weicht natürlich aus, was habe ich auch anderes erwartet? Damals war er unschlagbar im Sportunterricht. Und Polizist ist er jetzt auch noch. Wütend funkele ich ihn an, als er sich auf mein Bett setzt, die Matratze gibt unter seinem großen Gewicht nach. „Nein, ich gehe nicht. Deine Hand ist verletzt und du hast gerade gegen unsere gemeinsame Wand geschlagen", seine Stimme ist sanft, als würde er mit einem seiner Schwerverbrecher reden, der die Waffe weglegen soll und nicht mit mir. Aber wie soll er denn mit mir reden? Er räuspert sich und zupft sein Shirt zurecht, bis mir auffällt, dass er wieder nur in Boxershorts und seinem Schlafshirt auf meinem Bett sitzt. Auf meinem Bett! Instinktiv rücke ich nach hinten und ziehe die Beine an, sodass er noch weniger Einblick unter meine kurze Schlafshorts bekommt. Doch ich spüre nur die harte Wand im Rücken, als ich ihm ausweichen will. „Zeig mir deine Hand", fordert er ruhig, seine Augen sind gesenkt, als könnte er mich nicht ganz ansehen. „Ich brauche dich nicht", ich nutze die Gelegenheit, in der er nicht schaut, und stopfe den Brief meiner Mutter tief in die Tasche meines Hoodies. Das Knittern ist nicht zu überhören. Entschlossen schaue ich ihn an, aber Tim greift nur nach meiner Hand. „Emma, deine Hand sieht echt übel aus und sie muss versorgt werden. Ich kann das machen, ich kenne mich mit so etwas aus", seine warmen Finger streifen zart meinen Handrücken. Meine rote Haut prickelt unter seinen rauen Bewegungen und betäubt ein wenig meinen Schmerz, sodass ich mich nicht weiter wehren kann. „Warum hast du das gemacht? Bist du noch verkatert von gestern Abend?", fragt er und fährt über meine leichten Blutergüsse, die langsam eine lila Farbe annehmen. „Nein, bin ich nicht", knurre ich. Kurz bin ich wieder davor, ihm meine Hand zu entziehen. Aber das wäre dumm, wenn ich ehrlich bin. Leider weiß ich, dass er mir wirklich helfen sollte. Abgesehen davon, dass er durch seinen Job sicher einige Notfallhandgriffe parat hat, ist seine Mutter Notärztin. Ich habe damals oft mitbekommen, wie sie ihm etwas beigebracht hat und er interessiert nach den Unfällen gefragt hat, bei denen sie dabei war. Eine Weile hätte ich vermutet, dass er später in diese Richtung geht und niemals zur Kripo, aber so kann man sich täuschen. Gerade in ihm. „Okay, ich hole dir etwas, bleib du hier. Und sperre nicht ab", Tims Lippen ziehen sich zu einem Lächeln, als er aufsteht und schnell den Raum verlässt. Mein Blick fällt ungewollt auf seinen Rücken, der etwas zu breit für sein Shirt ist. Von hinten sieht man ein wenig die Haut, die zwischen seiner Hüfte und der Wirbelsäule spannt, beziehungsweise eben nicht: Es ziehen sich leichte Narbengewülste über sein Steißbein und verschwinden unter dem hellen Shirt, als würden sie niemals enden. Ich schlucke. Und warte tatsächlich, bis mein Exfreund wiederkommt.

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