Kapitel fünfundzwanzig

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Irgendwie kriege ich kaum meine Brote hinunter, die ich mir für das Abendessen gemacht habe. Insgeheim habe ich gehofft, dass Tim rechtzeitig von seinem Krankenhaustermin zurückkommt und ganz vielleicht kochen kann – andererseits wäre das mit Abstand zu viel verlangt, schließlich ist er noch immer nicht fähig, alleine zu leben oder sich frei zu bewegen. Seufzend wende ich mich von der Schwarzbrotscheibe mit Frischkäse ab und ziehe mein Handy aus der Hosentasche meiner zerrissenen Jeans. Die Jeans, die ich heute beim Treffen tragen möchte – die Abmachung war deutlich: nichts Romantisches. Also bleibe ich so, in meinem schwarzen Spruch-Hoodie und der kaputten Jeans. Ich glaube, Luna würde mich nicht einmal erwürgen, vermutlich würde sie mich sogar darin unterstützen, ich selbst zu bleiben, auch bei so etwas. Lächelnd öffne ich ihren Chat und wünsche ihr noch einen schönen letzten Abend, sie antwortet sofort und schickt Fotos von der Strandbar, in der sie mit Maik sitzt. Natürlich chatten wir nicht länger, also muss ich mich irgendwie anders von meiner Nervosität ablenken. Als ob ich genauso nervös bin wie als Teenager! Kopfschüttelnd entscheide ich mich dafür, noch Sid zu schreiben und neckisch zu fragen, wie die Woche ohne mich im Büro mit den ganzen Zicken war. Genau in dem Moment, als ich die Nachricht abschicke, klingelt es. Etwas zu aufgeregt eile ich zur Tür und reiße sie auf, wo Tim verlegen steht, der bartige Mann, der ihn bereits letztes Mal hierher gebracht hat, wendet sich grummelnd ab. „Danke", sagen wir gleichzeitig, Tim lächelt noch mehr. Er sieht fast niedlich aus mit seinen Grübchen, die ich in den ganzen letzten Wochen noch nie gesehen habe. „Hey", ich halte ihm die schwere Haustür ein Stück weiter auf, sodass er besser durchkommt. „Hey", Tim räuspert sich und kommt langsam an mir vorbei, die Stimmung ist aufgeladen. „Ich äh würde gerne noch einmal duschen, du weißt schon", Tim tritt bewusst einen Schritt zurück, als wir uns so dicht gegenüber stehen in dem Flur. „Ja, ist besser so", bestätige ich, als mir der beißende Geruch aus dem Krankenhaus langsam entgegenkommt und sich ausbreitet. Adhoc könnte ich mich übergeben oder losschreien, weil es mich so sehr daran erinnert, wie ich vor Jahren weinend meine Mutter in Hospitalen, Rehas und anderen Kliniken besucht habe. „Brauchst du Hilfe?", unsicher bleibe ich ihm gegenüber stehen, Tim zuckt mit den Schultern. „Na ja, es wäre schon etwas verrückt, würdest du erst mit mir duschen gehen und wir uns dann treffen", murmelt er und spielt an dem Band, das er an seinem Handgelenk trägt. Er hat das bunte um. Schluckend nicke ich. „Tja, wir sind nun mal verrückt", heiser halte ich ihm die Hand hin, sodass er mir die braune Lederjacke geben kann, die er umständlich auszieht. Ich kann ganz genau erkennen, wie sehr es ihm Schmerzen bereiten muss, den Oberkörper zu bewegen, auch wenn Tim sich sichtlich bemüht, es zu verbergen. „Na dann, aber erschrecke dich nicht beim Anblick", schmunzelt Tim mich an, ich nicke nervös. Oh man, ich sollte mich echt beruhigen, es ist nur ein Treffen mit einem Mann, den ich mal in- und auswendig kannte. Meinem Exfreund. Mit flauem Magen folge ich Tim, der erst sein Zimmer ansteuert und sich etwas zum Anziehen holt, ich bereite in der Zeit lieber die Handtücher vor und lasse die Dusche warm laufen. „Du bist ja schon fast wieder eigenständig", kommentiere ich das lässige Zufallen der Tür von Tim, als er zu mir ins Badezimmer kommt. „Vielleicht, wenn ich nicht heute wieder eine Spritze bekommen hätte. Sie haben die Nähte teilweise erneuern müssen und den Verband gewechselt", beiläufig legt Tim ein Shirt auf die Ablage. Aber nicht irgendein Shirt, er hat tatsächlich ein weißes T-Shirt mit einem Aufdruck genommen. Ich wusste gar nicht, dass er so etwas besitzt. Tim bemerkt meinen erstaunten Blick und zuckt unbeholfen mit den Schultern. Dann versucht er sich sein jetziges Shirt auszuziehen; ich schüttele grinsend den Kopf über ihn und helfe ihm. 

Nach dem Duschen helfe ich Tim in seine Boxershorts, bevor wir ihn auf die Bank in der Mitte des Raums setzen können. Gerade wühle ich durch die Schränke, um den Föhn zu finden, als ich Tims beobachtenden Blick im Rücken spüre. „Hm, was ist?", frage ich, während ich die Schublade erwische, in der nur lauter Toilettenpapierrollen stehen. „Ich hab mich nur gefragt, ob du so etwas schon öfter gemacht hast", antwortet Tim, ich drehe mich fragend zu ihm um. Unsicher zupft er an seinem Verband, der leider ein paar Wassertropfen abbekommen hat. Zudem habe ich den Verband noch so verrückt, dass man das Tattoo wieder lesen kann; ich wäre definitiv eine schlechte Krankenschwester. „Halt Männern unter der Dusche geholfen und so", Tim schaut kurz von seinen Händen auf, die gerade einen losen Faden einzwirbeln. „Nein?", verwirrt lache ich. „Wirkte so", erwidert Tim weicht meinem Blick aus, ich seufze und lasse mich aus der Hocke nach hinten auf den Po fallen. „Wieso sollte ich? Ich bin viel zu ... keine Ahnung. Und du, von wie vielen Frauen lässt du dich so waschen?", halb scherzhaft, halb ernst stütze ich meine Hände am Fliesenboden ab. „Von keiner. Also bis auf die Krankenschwestern diesmal, aber das war jetzt nicht mein Highlight", Tim schüttelt den Kopf, ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Was überlegst du?", reißt Tim mich aus meinen Gedanken. Blinzelnd nehme ich meinen Blick von dem Teppich, den ich angestarrt habe. „Ach", winke ich ab. Ich sollte fragen, ich sollte nicht so ein Geschiss daraus machen, ich bin furchtlos. Doch stattdessen rappele ich mich vom kalten Boden auf, klopfe mir die Jeans ab und suche weiter nach dem Föhn. „Komm, sag, was los ist. Ist etwas meinetwegen?", fragt Tim vollkommen ruhig, wie er da fast nackt sitzt und mich warm anschaut, als würde es ihm alles nichts ausmachen. Als würde es keine Rolle spielen, wie viel er anhat, wenn ich ihm gegenüber stehe. „Vielleicht", seufze ich und ziehe schnell den grauen Föhn aus der Schublade, in der ich ihn endlich gefunden habe. „Du kannst fragen, egal, was es ist, das ist dir schon klar?", Tim schaut mich durchdringend an, als ich ihm das Gerät hinhalte. „Ja, vielleicht dramatisiere ich es auch, ich meine wir sind echt erwachsen genug", winke ich abermals ab, im Handumdrehen schnappe ich mir das herunterhängende Kabel und mache mich auf die Suche nach einer Steckdose, nur um nicht weiter mit Tim darüber reden zu müssen. Ich will nicht die Frau sein, die kritisch fragt, wie viele er nach mir hatte. Andererseits gibt es auch eine gewisse Schmerzgrenze, die ein Mensch erreichen sollte. Ich persönlich würde zum Beispiel nicht gerne mit einem Mann schlafen, der bereits mit fünfzig Frauen geschlafen hat, auch wenn man natürlich das Alter und so weiter berücksichtigen muss. „Was dramatisierst du? Mit Sicherheit nichts, Em, du bist das Gegenteil von einer Dramaqueen, du weißt, was wirklich schlimm ist, du bist Realistin, also rede bitte mit mir", Tim zieht an dem Kabel, sodass es mir aus der Hand rutscht, bevor ich mich hinknien und es in die Steckdose stecken kann. Mit zusammengekniffenen Augen drehe ich mich zu Tim, der grinst. „Vergiss es, du kannst mich nicht durch so etwas dazu bringen", schmunzelnd schüttele ich den Kopf, aber Tim hört wieder auf zu lächeln. „Ich weiß, aber ich würde es gerne wissen. Seit du über das nachdenkst, was auch immer es sein mag, bist du so abweisend und angespannt mir gegenüber. Ich erkenne es an deiner Art, wie hektisch du dich bewegst und wie deine Schultern nach oben gezogen sind, Em, ich kenne mich mit nervösen Leuten mehr als aus", Tim mustert mich immer noch kritisch, doch diesmal habe ich eher das Gefühl, dass er mich mit den bohrenden Augen eines Kriminalpolizisten anschaut. „Na gut, du wolltest es hören, bitte sehr. Und, mit wie vielen Frauen hast du schon geschlafen?", mit verschränkten Armen schaue ich ihn angespannt an, mein Puls beginnt zu steigen. „Oh ...", Tim schaut mich überrascht an und schließt dann die Augen. „Em, ich möchte das Treffen nicht schon ruinieren, bevor es angefangen hat", murmelt mein Exfreund, ich nicke. „Ja, da stimme ich dir zu. Aber ich will wissen, worauf ich mich einlasse", merke ich an. „Okay, dann erzählst du es auch", Tim schaut mich prüfend an, ich beiße mir auf die Lippen. Ich will dann nicht wie eine Idiotin dastehen, auch wenn ich weiß, dass ich es nicht bin. Zwar bin ich klasse so wie ich bin und stolz darauf, Emma zu sein, aber bei sexuellen Themen fühle ich mich schnell unterlegen, vielleicht weil die meisten in meinem Alter schon heiraten. An sich ist das kein Problem, aber Tim gegenüber ... damals war ich ihm schon ab der Sekunde hinten an, als er unser erstes Mal zu Nichte gemacht hat. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie viele es waren", beginnt Tim, mir dreht es jetzt schon den Magen um. „Ist ja eine tolle Antwort", kommentiere ich auch trocken und weiß nicht, was ich tun soll. Mich neben ihn setzen? Noch mehr Abstand zwischen uns bringen? Gehen? Aufgrund der letzten Tage entscheide ich mich dafür, mich wortlos neben ihn zu setzen. Inzwischen kenne ich ihn wieder so gut, dass es keinen Unterschied machen würde, wo ich bin. „Ich weiß. Es ist nicht so, dass ich mit der Hälfte aller Frauen aus Braunschweig geschlafen hätte ...", Tim zupft an seinem Verband herum, sodass er noch mehr von dem Tattoo preis gibt, das er meinetwegen hat. Nachdenklich betrachte ich es nochmal und nochmal, einfach nur um die Buchstaben zu inhalieren. „Nicht? Sondern? Mit was für Frauen überhaupt?", hake ich nach, auch wenn mir jetzt schon schlecht ist, mein Magen rebelliert. „Mit wenigen, jedenfalls ... ich dachte, Luna hätte es dir schon mal erzählt. Ich hatte nur kurze Sachen, nur One-Night-Stands, all die Jahre lang. Mit Frauen, die ich nicht kannte und auch nie wiedergesehen habe", Tim verzieht das Gesicht, fast angewidert. „Es ging ausschließlich um Sex?", flüstere ich, Tim nickt. „Bei dir nicht", flüstert er leise zurück, ich räuspere mich. „Stimmt. Beziehungsweise zur Hälfte. Ich hatte jetzt auch keine feste Beziehung, eher so lockere Sachen und ein paar Affären, aber es war nie Liebe, wenn überhaupt, dann mal ein Verknallt-Sein", erkläre ich. Es fühlt sich erstaunlich leicht an, über die Männer zu reden, selbst als die Bilder vor meinem geistigen Auge auftauchen, bleibe ich entspannt. Zum ersten Mal in meinem Leben sind diese Bilder alle hundertprozentig Vergangenheit, weil jemand neben mir sitzt, der Zukunft sein kann. Der erste Kerl, für den ich jemals wirklich Gefühle hatte. Der einzige. „Hast du noch Kontakt zu einem von ihnen?", fragt Tim leise, seine Stimme klingt fast panisch. Ich lächele. „Nein, absolut nicht. Außerdem sitzen die eh alle irgendwo in Bayern", ich verdrehe die Augen extra, sodass Tim noch mehr grinst. „Ich bin froh, dass wir darüber gesprochen haben", fügt er hinzu, ich nicke. „Ich auch. Gut, dass du uns gedrängt hast", es fällt mir noch immer schwer, etwas zuzugeben, aber heute ist es machbar. „Und jetzt föhne mir endlich die Haare", Tim lacht neckisch auf, ich trete ihm gegen das nackte Schienbein und mache mich erneut auf den Weg zur Steckdose.

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