Kapitel zwanzig

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Luna ist verständnisvoll, als ich nach dem Einkaufen nicht mehr beim Ausräumen helfen kann, sondern wirklich meine Reportage beenden sollte. Also hilft sie mir sogar, einen Knabbervorrat an Paprikachips in mein Zimmer zu schaffen, ebenso wie gekühlte Colaflaschen neben den Schreibtisch zu stellen; anders werde ich die Nacht nicht überstehen. Also kann ich mich wenigstens ein wenig motivieren, zu schreiben, zumal das meine einzige Chance ist, diesen genialen Job in Frau Maybachs Büro zu halten. Wenn ich morgen meine ellenlange Reportage nicht abgebe, kann ich es vergessen. Und spätestens jetzt sollte ich mich am Riemen reißen und professionell sein – Hauptsache, ich verdränge jetzt, was zwischen Tim und mir vorgefallen ist genauso wie das, was mit Lucy ist oder nicht ist. Es ist verdammt nochmal mein Job, einen guten Artikel über Lucy zu verfassen. Über eine starke Frau, schärfe ich mir ein, als ich meinen Laptop hochfahre und beginne, das Dokument zu öffnen. Während ich schreibe, blende ich alles aus, was um mich herum passiert. Nur ganz entfernt, ein wenig wie durch Kopfhörer plus große Wattepolster, höre ich, wie die beiden Männer scheinbar wieder in die Wohnung kommen. Deren Lachen klingt ein wenig überdreht, fast, als hätten sie etwas getrunken. So viel dazu, dass Tim nicht trinkt. Aber ich sollte nicht eifersüchtig sein, ich sollte mir keine Gedanken darüber machen, was das letzte Mal passiert ist, als ich wusste, dass er betrunken war. Es ist, als wüsste ich wieder ganz genau, wie Tim mich angeschaut hat, als er mir gesagt hat, dass er mit diesem Mädchen geschlafen hat. Bis heute weiß ich nicht, welches es war. Damals wollte ich es nicht wissen und heute – weiß ich nicht, ob ich damit zurechtkommen würde. Andererseits wäre es gut nachzufragen, einfach, um eine Gewissheit zu haben und ein Stück weit damit abschließen zu können. Aber werde ich das je können? Seufzend atme ich tief durch und wende mich wieder meiner Reportage zu, die inzwischen fast die Mindestlänge erreicht hat. Ich habe ein gutes Gefühl, wie ich schreibe. Aber ein schlechtes, dass es über Tims Kollegin sein muss. Es ist nicht einmal so, dass ich sie am Ende nicht mochte, es ist einfach ... alles.

Als ich gegen Mitternacht fertig mit dem Text werde, wage ich es das erste Mal, wieder aufzustehen. Diese eine kleine Pause, zur Toilette zu gehen, gönne ich mir; dann werde ich den Artikel überarbeiten und pünktlich absenden. Mit einem angespannten Bauch stehe ich auf und merke, wie meine Füße kribbeln. Dass sie eingeschlafen sind, fehlt mir gerade noch. Alles andere an mir schmerzt auch verdächtig, genau wie mein Kopf, der langsam zu brummen beginnt. Es ist, als würde die ganze Anspannung von mir abfallen. Spannung. Sofort beeile ich mich noch mehr, ins Bad zu kommen, bis in das Gäste-WC, mein eigentliches Bad, würde ich es gar nicht mehr schaffen, so dringend ist es mir plötzlich, meine Blase auszuleeren. So schnell ich kann, tapse ich über den leisen Gang und löse schon mal das Band meiner Stoffshorts, damit - „Emma?", Tims schlaftrunkene Stimme lässt mich erstarren. Sofort ziehe ich meine halb heruntergelassene Hose wieder hoch und fahre herum. Natürlich steht mein Exfreund in seinem Türrahmen und leuchtet mich mit einer Taschenlampe an, deren Licht erstaunlich schwach ist. „Hm ja?", ich versuche zu flüstern, auch wenn ich am liebsten schreien würde. Na toll, da ziehe ich ein einziges Mal meine Hose bereits auf dem Flur runter, da begegne ich halbnackt jemandem und dann auch noch Tim. „Ist alles okay?", flüstert Tim und leuchtet mich an, ich knurre aus reinem Reflex. „Ich würde wirklich nur gerne aufs Klo gehen", zische ich und wende mich dem Gehen zu, als der Lichtstrahl mir noch immer folgt. „Ist noch etwas?", betont langsam drehe ich mich um, was mich einiges an Beherrschung kostet. Eigentlich würde ich lieber umhertanzen, weil ich so verdammt dringend auf die Toilette muss. „Nein ... ja ...", Tims Augen irren nervös umher, zumindest soweit ich das in dem spärlichen Licht seiner Lampe erkennen kann. Warum hat er überhaupt eine Taschenlampe angemacht und nicht einfach das Flurlicht?! „Okay, also, ich finde, wir sollten reden", murmelt Tim, ich lache ironisch auf, was mich fast zu sehr schüttelt. „Du willst jetzt reden? Ist das dein Ernst?", bringe ich mühsam hervor, darauf bedacht leise zusprechen und gleichzeitig meine Ungläubigkeit zum Ausdruck zu bringen. Als Tim schweigt und nur seine Taschenlampe festhält, kneife ich die Augen zusammen. „Ja, ist toll, dann sag halt nicht mal etwas dazu. Es ist ja nicht mal so, dass du nicht betrunken wärst", herrsche ich ihn an, wobei ich langsam einen Schritt auf ihn zu mache. „Was soll das jetzt?", fragt Tim wobei seine Stimme schon fast normal laut klingt. „Das frage ich dich. Du stehst allen Ernstes betrunken vor mir und quatschst mich nachts an. Das letzte Mal, dass du mir gegenüber etwas mit Alkohol zu tun hattest, war, als du mich betrogen hast", stoße ich hervor und merke, wie mir Tränen in die Augen schießen. „Nein, das letzte Mal haben wir zusammen mit Cider auf deinen Job angestoßen und -", setzt Tim an, aber ich knurre etwas, das ich selbst nicht verstehe. „Hör auf damit. Du weißt, was ich meine", unterbreche ich ihn harsch, Tim richtet sich auch auf, sodass er mich wieder überragt. „Ich habe außerdem heute nur mit Maik angestoßen und das ist meine Sache, Em", ich merke, wie er sich beherrschen muss, nicht zu schreien. „Em?! Hör endlich auf damit! Du hast Em kaputt gemacht!", diesmal schreie ich wirklich. Tim stolpert einen Schritt zurück, als hätte ihn geschlagen. „Em ... Emma, das ...", er schluckt so laut, dass ich es auch im kompletten Dunkeln mitbekommen hätte, nicht nur durch sein Lampenlicht. „Was?", brülle ich ihn an, Tim schließt die Augen. „Warum hast du mich überhaupt geküsst, wenn du mir nie verzeihen wirst?! Damit du mich so leiden lässt, wie ich dich damals verletzt habe?!", Tim erhebt jetzt auch seine Stimme, die mich trifft. Es ist nicht fair, dass er mich jetzt auch versucht zu verletzen; mit jedem Wort, das er ausspricht. „Das ist so etwas von armselig, mich mit dir zu vergleichen! Als würde ich jemals aus reiner Gehässigkeit und Rache handeln!", ich glaube, so laut habe ich in meinem Leben selten geschrien. „Scheinbar, warum dann, Emma?", Tim schaut mich direkt an mit seinen Augen, die ich zum ersten Mal wirklich verfluche. Ich verfluche sie, weil sie mich daran erinnern, dass ich mich immer von ihm angezogen fühlen werde. Körperlich. Und seelisch, was noch viel schlimmer ist. „Glaub bloß nicht, dass ich dir jetzt eine Liebeserklärung machen werde, Tim Baua", mit zusammengebissenen Zähnen funkele ich ihn an, er blinzelt. „Ich würde dir immer eine machen", murmelt er dann, ich merke, wie ich die Kontrolle verliere. Wütend, dass er so etwas sagen kann, reiße ich ihm die Taschenlampe weg und schleudere sie gegen die Wand, sodass das Glas vorne drauf hörbar zerspringt. „Wie kannst du so etwas nur sagen?!", fahre ich ihn an, Tims Hände greifen unkontrolliert nach meinen, aber ich schlage sie weg. „Weil es die Wahrheit ist, Em. Ich liebe dich und es tut mir leid, dass dich das wütend macht, aber es ist nichts als die Wahrheit. Das Innerste meiner Seele. Und ich dachte ... ich habe gehofft ... es wäre dir klar. Das Tattoo, damit meine ich dich. Ich dachte, ab dem Moment wäre es dir spätestens klar gewesen, oder wie ich dich ansehe, Em. Als wärst du mein Leben! Und das bist du! Du bist alles, was ich brauche. Als du gefragt hast, was ich brauche, damit aus dem Überleben ein Leben wird, meinte ich dich! Immer nur dich! Seit ich dich zum ersten Mal im Schulhaus gesehen habe und wir zusammengestoßen sind! Es tut mir leid, was damals geschehen ist, alles. Ich hasse mich selbst dafür und verfluche jede Sekunde, die du nicht in meinem Leben warst seitdem. Ich war ein verdammtes Arschloch und ich habe dich zutiefst verletzt. Und mich genauso sehr, weil ich dich verloren habe. Em, ich ...", Tims Augen glänzen, als er das sagt. Ich kann nirgends anders hinsehen, als seine Ozeanaugen anzuschauen und nach einer Lüge, nach einem gemeinen Funkeln in seinen Augen zu suchen, aber da ist nichts. Da ist einfach nur Wahrhaftigkeit. Langsam schüttele ich den Kopf und versuche etwas zu sagen, sollte ich jemals meine Stimme wiederfinden. „Du ... hast kein Recht ... das jetzt zu sagen", stoße ich hervor, meine Hände schnellen auf seinen Oberkörper. Hart treffen meine Fäuste seine Brust, was ich nicht wirklich merke. Ich sehe es zwar, aber ich spüre es gar nicht richtig in meinen Händen. Da sind einfach nur diese Wut und diese Verzweiflung in mir, die mich plötzlich einnehmen. Sein Liebesgeständnis ging zu schnell. Kam zu stark, zu intensiv, zu ehrlich. Es hat mich getroffen, bis in die Seele. „Du tust mir weh", Tim bleibt ruhig, als er das sagt. Aber ich höre, wie seine Stimme zittert. Ich erahne, dass er nicht das Körperliche meint, sondern, dass ich das, was er eben gesagt hat, übergehe. „Und?! Du hast mir auch weh getan! So weh getan! Du hast mich verletzt! Als du mit diesem Mädchen geschlafen hast!", wieder treffen meine Fäuste hart seinen Brustkorb, der bebt. „Und du hast es mich all die Jahre nicht erklären lassen!", schreit Tim zurück, noch einmal hole ich aus und weiß, dass ich ihn ernsthaft verletzten werde. Erst jetzt, als es ernst wird, wehrt er sich und hält meine Hände in der Luft fest, als ich zu zittern beginne. „Dann tue es! Erzähl mir, warum du mit ihr dein erstes Mal haben musstest! Warum?!", mir laufen Tränen über das Gesicht und tropfen auf den Boden hinab. „Nicht jetzt", presst Tim hervor, ich reiße meine Hände gewaltsam aus seinem eisernen Griff. „Doch jetzt! Oder wolltest du damit warten, bis wir im Bett waren?! Damit du mich endlich ein Mal flachgelegt hast?!", verzweifelt stolpere ich von ihm weg, nach hinten in den rabenschwarzen Flur. „Nein! Du hast die Wahrheit verdient und mir würde es niemals, niemals darum gehen, dich flachzulegen. Es ist schockierend, dass du das nach dem, was ich dir gesagt habe, immer noch denkst. Was nicht deine Schuld ist, ich schäme mich, dass ich dir noch immer dieses Gefühl vermittele", Tim geht mir nach, das merke ich an seinem Schatten, der mir näherkommt. Das Licht, das jetzt nur noch durch Splitter hindurch an die Wand scheint, gibt nicht mehr genug von seiner Miene preis. „Dann sag es mir, sag es mir", weine ich. Es fühlt sich an, als wäre ich nicht mehr siebenundzwanzig, sondern wieder die sechzehnjährige Teenagerin. „Nicht so", Tim schluckt wieder hörbar. „Warum? Ist es dir unangenehm? Kann es mich verletzen? Sag doch, wie sie dich verführt hat. Oder hast du sie aufgegabelt? Hast du sie dir schön getrunken? Fandest du sie schon immer heiß? Hm, war sie an unserer Schule? Hat sie -", schluchze ich unerbittlich, ohne dass ich es verhindern kann. „Hör bitte auf, Em", Tims starke Arme greifen nach mir. Aufgelöst schlage ich um mich, in der Hoffnung, ihn zu treffen. „Bitte, beruhige dich", Tim fleht förmlich, wobei er selber unendlich aufgelöst klingt. „Nein, du wolltest mit mir reden!", fauche ich, Tim greift wieder nach mir. „Fass mich nicht an!", presse ich hervor, während mir die Tränen nur über das Gesicht rinnen. „Okay", Tim bewegt sich nicht mehr in der Dunkelheit, was mich fast nervöser macht. Stattdessen geht er ein paar Schritte zurück, sein Schatten verschwindet mit ihm. Weinend und fluchend sinke ich im Flur zu Boden und umschlinge mich, während er lautlos in sein Zimmer geht. Kaum verschließt sich seine Tür, werden zwei Türen aufgerissen. Mein Blick fällt zuerst auf Maik, der mich entschuldigend ansieht, als er an mir vorbei zu Tim eilt und nur in seiner Unterhose bekleidet gegen Tims Tür hämmert. In der Zeit, in der ich durch einen Tränenschleier die Szene beobachtet habe, kommt Luna leise zu mir. Still setzt sie sich neben mich und legt vorsichtig den Arm um mich, was ich annehme. Tränenverschmiert werfe ich mich gegen ihre zarte Schulter und weine in ihr Schlafshirt, das nach etwas Kuscheligem riecht, ein bisschen wie Zuhause. Und dann weine ich, wortlos und schweigend gegen Lunas Schulter, während sie mich umarmt und einfach nur neben mir sitzt. Ich weine um alles; um die Situation eben, um die Beziehung mit Tim und auch um meine Mutter, die jetzt nicht für mich da sein kann. Und für Luna ist es okay, sie ist einfach da. Ich merke, wie es mir trotz der vielen Tränen besser geht: Das mit Luna und mir hat gerade einen sehr großen Sprung gemacht. Genau wie die Tatsache, dass das zwischen Tim und mir endlich hervorgebrochen ist nach all den Jahren.

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