Kapitel zweiundfünfzig

33 5 0
                                    

„Okay, wenn du den Gang runtergehst, sollte er in der letzten Tür sein. Aber pass auf, vielleicht ist unser Chef da und du weißt ja ...", deutet Miguel warm lächelnd an, kaum sind wir mit der Befragung fertig geworden. „Danke, wirklich", ich drehe mich nicht mehr um, als ich über den Gang hetze. Der frisch gewischte Boden quietscht unter meinen Sohlen, als ich über den verlassenen Flur haste; jede Tür ist geschlossen und an den Glasfenstern sind die blickdichten Vorhänge und Riffelungen heruntergelassen. Da, die letzte Tür. Ein Spalt steht noch offen, sodass ich warmes gelbes Licht durch den Raum fallen sehe. Entschlossen klopfe ich gegen die Tür, wobei sie natürlich bei der Bewegung meiner Fingerknöchel sowieso schon aufschwingt. Es knarzt laut, sodass Tim den Blick hebt. Er sitzt nachdenklich auf der Kante eines Schreibtisches, sein Kopf war bis eben geneigt, während er etwas unterhalb seines Kinns betrachtet hat – die Kette. Zum zweiten Mal verfluche ich mich dafür, dass ich meine abgerissen habe; jetzt liegt sie nicht nur daheim, sondern ist auch noch kaputt – und das weiß er noch nicht einmal. „Hey", ich räuspere mich. Verdammt, wo ist meine Selbstsicherheit, wo ist meine Entschlossenheit? Schon fast vorsichtig setze ich einen Fuß in Tims Büro und schließe leise die Tür hinter mir, er beobachtet mich wie Raubtiere ihre Beute betrachten. Mit dem Argwohn vielleicht aber auch umgekehrt. „Schon fertig?", antwortet er nach einer Weile heiser, ich nicke. Seine Worte geben mir das Gefühl, ich würde mit einem Fremden sprechen, sein Blick signalisiert, dass er sich das wünschen würde. „Mit der Aussage schon", ich mache noch einen Schritt auf ihn zu. Tim blickt mich an. Schmerz spiegelt sich in seinem Blick wider, ich weiß nur nicht recht, ob meinetwegen oder seinetwegen. „Und jetzt? Willst du mit mir reden?", stellt er kühl fest. Am liebsten würde ich ihm einen saftigen Tritt verpassen oder ihn in die Schulter knuffen, dann würden wir beide lachen und gemeinsam nach Hause gehen. Aber so einfach wird es nicht. So wird es nie wieder. „Ja, selbst wenn du nicht mit mir redest. Eigentlich will ich nur, dass du mir zuhörst, wie leid es mir tut. Hörst du, Tim, mir tut es leid, dass ich dir so misstraut habe und -", weiter komme ich nicht, ich halte die Luft an, als Tim sich schwer von seinem Tisch erhebt und zu mir kommt. Mein Puls beschleunigt sich, als er sich bedacht mit der Zunge über die Lippen fährt und mir dann tief in die Augen schaut. „Em ... Emma, stopp. Bitte mach es mir nicht schwerer", höre ich ihn mit kratziger Stimme sagen. „Was?", auf einmal habe ich wieder Hoffnung und Kampfgeist. Nicht schwerer. Egal, in welche Richtung er lenkt, er ist sich selbst nicht sicher, er kann womöglich nicht standhaft bleiben, ich kann ihn beeinflussen, ich kann ihn umstimmen. „Ich kann das nicht mit uns", er fährt sich über das Gesicht. Ich starre ihn an. „Bitte, schaue nicht so. Nicht so, als würde es dir viel ausmachen", fleht er mich an. Ich blinzele wütend die Tränen weg. „Weil es das tut! Du unterstellst mir gerade, dass es mir nicht viel ausmachen würde?! Dass ich dich nicht lieben würde?! Dass ich dir etwas vorgespielt hätte?!", die Worte rutschen mir heraus und treffen ihn wie Messerklingen; er zuckt zurück und schüttelt den Kopf: „So habe ich das nicht gesagt." „Aber gemeint!", schreie ich ihn an. „Em, nein, jedenfalls ... es ist meine Schuld, okay? Du kannst mich nicht lieben, das geht gar nicht", flüstert Tim. Trotzdem hallt es laut in dem Raum wider. „Denke so etwas nicht. Was ist das für ein Müll, Tim? Wer hat dir das eingeredet? Meine Mutter? Hast du noch einmal mit ihr gesprochen?", mir ist egal, was er will. Ich schüttele ihn an den Schultern, schlage ihm auf die Brust und sehe ihn an. Versuche irgendwie zu ihm durchzudringen, aber er hat sämtliche Riegel vor seine Seele geschoben. „Es spielt keine Rolle. Weil es so ist. Du wirst mich nie lieben können. Du wirst mir nie verzeihen können, das wird keiner", fährt Tim fort, hält an seinem verdammten Plan fest. „Tim", ich will ihn festhalten und ihm Halt geben, aber er schüttelt meine Hand ab. Er weicht vor mir zurück, als könnte ich etwas ändern, aber ich weiß, dass ich es nicht kann. Und auf einmal weiß ich, wie das endet. „Nein, lass es mich zu Ende bringen", er bringt noch mehr Abstand zwischen uns, als er sich hinter seinen beschissenen Schreibtisch stellt. Zwischen uns die Akten, die Lebensläufe meiner Eltern und anderes Zeug, das ich ihm am liebsten ins Gesicht werfen würde. Oder diesem verdammten Leben. „Ich verstehe dich. Ich könnte es mir auch nie verzeihen. Em, bitte, verstehe du mich. Ich mache nicht dir einen Vorwurf, sondern mir. Ich habe damals Scheiße gebaut, große Scheiße. Und du hättest mir das niemals verzeihen sollen. Ich verstehe auch nicht, wieso du es getan hast. Es ist gegen deine Prinzipien, jedenfalls war es das immer. Ich hatte meine Chance, damals, und habe sie vermasselt. Und das tut mir so leid und ich hasse mich selbst dafür. Ich war so bescheuert, überhaupt etwas zu trinken. Dann wäre das damals alles nicht passiert. Und du müsstest jetzt nicht immer daran denken. Hätte ich das damals nicht getan ... keine Ahnung, vielleicht wären wir dann noch zusammen. Aber ... ich will, dass wir es nicht mehr sind. Ich kann es nicht. Und du kannst es auch nicht. Ich verstehe das, es hat nur verdammt lange gebraucht, bis ich es verstanden habe. Du wirst nie loslassen können und das ist okay. Bei jeder Nachricht erkenne ich in deinem Blick Argwohn. Du willst ihn nicht haben, aber er ist da. Bei jedem Satz, den ich über eine Frau verloren habe, dachte ich ... dass du ... du bist nicht sonderlich eifersüchtig, Em, aber nachtragend. Und du erinnerst dich immer daran. Jedes Mal, das ich zu spät von der Arbeit nach Hause kam, hattest du irgendwo in dir drinnen Bedenken, was ich eigentlich getan haben könnte. Ich weiß, dass du das nicht willst, aber es ist da, was meine Schuld ist. Hätte ich damals nicht dein Vertrauen gebrochen", er weint. Und ich glaube, dass mir auch etwas Feuchtes die Wange hinunterläuft. Wütend auf ihn und auf mich selbst wische ich mir die Tränen energisch weg, sodass ich einen Schmerz verspüre, als der Reißverschluss meines Ärmels über meine Haut reibt. Scheiß drauf, selbst wenn ich blute. Tut doch längst nicht so weh wie das hier. „Und wann ist dir das bitte klargeworden?! Außerdem ist das nicht wahr, Tim, du -", ich suche nach Worten. Da sind keine. Weil er recht hat. „Doch, das ist es. Das wissen wir beide. Ich will damit nicht sagen, dass es mir nicht wichtig gewesen wäre, mit dir zu schlafen. Also sicher, es würde mir sehr, sehr viel bedeuten, aber es war nie notwendig für unsere Beziehung. Erinnerst du dich noch an den Moment in der Dusche? Du wolltest es nicht. Das verstehe ich. Aber weißt du, was ich denke? Du wirst es nie können. Du hattest immer im Hinterkopf, was ich damals getan habe. Du wolltest niemals die damaligen Grenzen überschreiten. Niemals dich enttäuschen. Deine Mutter enttäuschen. Du hast dich immer gefragt, was sie denken würde. Wie sie reagieren würde, wenn sie wüsste, dass du mit mir geschlafen hättest. Und das hast du nicht ertragen, sie so vor den Kopf zu stoßen. Und selbst verletzt zu werden. Weil du nie die Theorie verworfen hast, dass es nur um Sex ginge. Weil ein Teil von dir dachte, dass ich weg wäre, wenn wir es getan haben. Dass ich nur das von damals beenden wollte, was ich damals nicht geschafft habe. Das ist doch das, was deine Mutter die eingepflanzt hat, oder? Dass ich so ein Arschloch bin. Bin ich auch, ich habe dich nicht verdient", ich weiß nicht, was mehr weh tut. Seine Worte oder seine gebrochene Seele durch seine feuchten Augen zu sehen. Er muss selbst auch nach Luft schnappen, als würde das Weinen ihm den Sauerstoff rauben: „Aber jetzt ist sie da. Und das bedeutet zwei Sachen. Erstens, dass sie dich dafür verachtet. Oder eher mich. Und du hast es zurecht zugelassen. Wie sie mich angesehen hat, wie sie über mich gesprochen hat. Und wie sie mich geschlagen hat. Das habe ich verdient, mach dir deswegen keine Gedanken, es ist nur ... es ist nur ..." Er schluchzt. Oder bin das ich? Sind das meine ersticken Laute oder seine? Ist das mein Schmerz, den ich spüre, oder seiner? „Und zweitens?", fragt eine Stimme, die meiner nicht nahe kommt. Doch Tim scheint sie als meine zu identifizieren. „Und zweitens ... und zweitens ... bist du jetzt frei, wie du es immer sein wolltest. Du hast nichts mehr, was dich hier hält", er schließt die Augen: „Geh schon, Emma." „Nein! Ich gehe nicht! Du kannst nicht einfach ... Moment, frei?! Was soll das heißen, Tim?! Ist das dein Ernst? Ist das jetzt deine scheiß Kommissarnummer? Oder willst du dich auf einmal wie ein Arschlochfreund aufführen, der so tut, als wäre ich nicht frei bei ihm?! Das glaube ich dir nicht. Weil es nicht stimmt. Du -", wieder lässt er meine Proteste nicht zu. „Du wolltest das alles gar nicht, Emma! Du wolltest mich nie freiwillig. Vielleicht hast du das geglaubt, weil sich alles gefügt hat, aber du hättest das nie gewollt. Du hättest nie nach mir gesucht. Was, was wäre passiert, wenn deine Mutter nie zu deinem Vater gefahren wäre? Du hättest deinen Job in Bayern behalten, wärst bei ihr geblieben und ihr hättet später gemeinsam einen Buchladen eröffnet oder was weiß ich" Ich funkele ihn bei seinen Worten an. Langsam übernimmt meine Wut die Führung. Meine Augen brennen zwar vor Schmerz, aber genauso füllt sich eine mächtige Blase Wut in meinem Magen an. „Wie kannst du nur?! Du stellst gerade alles, aber auch wirklich alles in Frage!" „Weil es wichtig ist! Komm schon, beantworte mir die Frage: Was wäre, wenn deine Mutter geblieben wäre? Oder antworte nicht, dein Schweigen dazu ist Antwort genug. Du wärst nämlich niemals nach Braunschweig gekommen. Du hättest niemals Luna besucht und du hättest mich niemals gesucht", er sackt an seinem Regal zusammen. Ich sehe, wie er mit sich kämpft, aber er findet keine Kraft, wieder aufzustehen. „Aber du mich oder was?!", ich schlage wild mit Worten um mich, will ihn irgendwie davon abhalten, auch wenn wir beide wissen, wie es ausgeht. Wenn ich vernünftig wäre, würde ich jetzt gehen. Einfach dieses verdammte Büro und danach dieses verdammte Präsidium verlassen. Nur leider bin ich zu emotional. Zu leidenschaftlich. Zu wenig verkopft. Zu trotzig. „Okay, sagen wir, du wärst hochgekommen. Dann hättest du deine Wohnung gehabt. Du wärst niemals zu Besuch gekommen und noch viel weniger bei uns eingezogen. Und diese Liste wäre endlos. Was ich damit sagen will, ist ... ist ... das alles, das hättest du nie gewollt, hätte es dir das Leben nie vorgesetzt und dir keine andere Wahl gelassen. Du hättest dich nie dafür entschieden, mir noch eine Chance zu geben. Du warst regelrecht dazu gezwungen, neben mir zu wohnen. Mit mir zu leben", Tim schaut mich schon lange nicht mehr an. Er hat seinen Kopf zwischen den Beinen vergraben und schlägt gelegentlich auf den Boden, einmal wirft er den Kopf gegen die Wand und ich ziehe scharf die Luft ein. „Und unsere Küsse? Unsere Berührungen? Unsere Worte? Zu denen war ich auch gezwungen?", ich verliere die Kontrolle über mich. Wahllos greife ich nach einem der Becher von seinem Tisch, schütte diese Stifte auf den Boden und werfe ihn damit ab. „Du hast dich womöglich verpflichtet gefühlt. Weil ich der Initiator war. Weil ich diese blöden Worte auf der Brust habe. Weil ich es zuerst gesagt habe, ich liebe dich. Weil du mich auf dem Friedhof getroffen hast. Weil ich angeschossen nach Hause gebracht wurde und nur du da warst. Verstehst du?! Du hattest nie eine richtige Wahl! Denn wenn du sie gehabt hättest, hätten wir nicht noch eine Chance gehabt! Em ... ma, beantworte mir eine Frage. Wenn man dich vor einem Jahr gefragt hätte: Willst du Tim wiedersehen? Ihm eine Chance geben? Ihn lieben? Wie um alles in der Welt hätte deine Antwort jemals Ja sein können?" Ich presse die Lippen aufeinander. Genauso gut könnte ich sie offen lassen, es würde sowieso nichts aus mir herauskommen. Nichts. Nicht einmal ein schlagfertiger, gemeiner und sadistischer Spruch. Nichts. Da ist nichts mehr, was ich denken und sagen kann. „Kannst du ... bitte gehen?", flüstert Tim kraftlos. Als hätte er nicht nur mit mir, sondern gegen sich gekämpft. Ich weiß, dass ich keine Wahl habe. Da draußen sind lauter Polizisten – wenn er es darauf anlegen würde ... Und ganz abgesehen davon hat meine Mutter keine andere Wahl. Ich kann, ich darf, hier keine Szene veranstalten; im Gegenteil, ich habe jetzt schon zu viel getan. Zu viel, das meiner Mutter noch schaden könnte. „Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich dein Leben verlasse", flüstere ich gepresst und dennoch gehe ich zur Tür. „Aber dich darum bitten. Weil es uns beide kaputtmacht", erwidert Tim leise. Vielleicht bilde ich es mir aber auch nur ein. „Du lässt mir keine Wahl", schieße ich heraus. Ich weiß, dass es falsch ist. Und dennoch antwortet er mir gedrückt: „Es ist nur fair, wenn es so endet, wie es angefangen hat."

HeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt