Der Tod meiner Vermieterin geht mir schon nahe, zumal es mir auch wieder bewusst macht, wie schnell die Dinge vorbei sein können. Oder wie sehr man sich im Leben auf eine Sache fokussiert und sich von dieser abhängig macht. Wie ich mich von einer Wohnung, die ich nie bekommen habe. Wie leichtsinnig es von mir gewesen ist, hierher zu fahren, ohne sichere Jobzusage und mit einer Wohnung, die ich nicht einmal besichtigt habe. Die ganze Woche habe ich damit gehadert, als ich hier war. Und langsam kann ich es annehmen, dass es sich vielleicht wirklich so ergeben sollte. Nur eben für einen kurzen Zeitraum. Ich habe trotzdem nicht vor, hier wohnen zu bleiben. Eine Wohngemeinschaft mit Tim zu haben, ist immer noch ein grausamer Gedanke. Zwar könnte ich mich vielleicht mit der Idee anfreunden, ein paar Monate mit Luna zusammenzuwohnen, ganz vielleicht hätte ich sogar noch Maik hingenommen. Aber das mit Tim ist mir zu viel, es belastet mich zu sehr. Und vermutlich nicht nur mich, sondern uns alle. Ich merke doch, wie angespannt die Lage noch immer ist, wenn wir abends zu viert am Abendbrottisch sitzen. Seit Mittwoch, wo Luna und ich unseren „blauen Tag" eingelegt haben und sie für mich in ihrem Verlag abgesagt hatte, ist es besser, aber lange noch nicht gut, geschweige denn wie früher. Das beweisen alleine schon diese verkrampften Fragen, wenn ich Tim nach der Butter frage und Luna und Maik sofort die Luft anhalten. Oder als Maik mir gestern aus Versehen das Wasser in den Schoß geschüttet hat, als ihm sein Glas umgefallen ist. Sogar als Luna einen Spruch über den Freund ihrer kleinen Schwester gemacht hat, haben alle unauffällig zu mir geschaut. Diese Natürlichkeit, die wir damals hatten, fehlt nun einmal. Daher möchte ich auch nicht länger hier bleiben und die Stimmung kaputt machen, zumal die anderen ja ursprünglich zu dritt zusammengezogen sind. Umso motivierter bin ich, eine eigene Wohnung zu finden. Seit gestern sitze ich den ganzen Tag vor meinem Laptop und klicke mich wie eine Verrückte durch die ganzen Immobilienanzeigen. Nebenbei war ich schon bei dem Einwohnermeldeamt und habe die Lage geschildert, bei der ich tatsächlich auf Verständnis gestoßen bin. Solange bleibe ich aber offiziell hier mit Luna, Maik und Tim wohnen. Frustriert klicke ich die nächste Wohnung weg, die mir angezeigt wird. Zu teuer, zu heruntergekommen, kein Parkplatz, zu weit weg vom Zentrum, zu ländlich, zu spießig. Und dann müsste ich noch Möbel finden, von einem Geld, das ich nicht habe, beziehungsweise das für die Miete gedacht war. Genervt klappe ich meinen Laptop wieder zu, an dem ich nichts finde. Stattdessen widme ich mich der Waschmaschine, die inzwischen fertig sein sollte. Wie versprochen kümmere ich mich um den Haushalt, wenn ich schon Zuhause bleibe und bisher keine Miete zahle. Heute Früh konnte ich die anderen dazu bringen, ihre schmutzige Wäsche selber in die Trommel zu stecken, damit es nicht zu einer komischen Situation kommt. Nur fühlt es sich immer noch ungewohnt an, vor einer fremden Waschmaschine zu knien und die nasse Wäsche herauszuziehen. Besonders, wenn es sich um eine Boxershorts handelt. Ich ahne, dass es Tims ist, aber genau hinsehen möchte ich nicht. Schnell werfe ich sie in den grauen Wäschekorb, den ich gefunden habe. Bei den nächsten Kleidungsstücken bin ich etwas beruhigter, als ich sie anfasse: meine Socken, Lunas T-Shirts mit den ganzen Sprüchen und Streifen, ebenso noch ein Bettlaken und ein Handtuch. Erst, als mir ein weißes T-Shirt in die Hände fällt, halte ich Inne. Es muss Tims Shirt sein. Ohne es wirklich zu wollen, halte ich meine Nase an den frischen Stoff. Er riecht ausschließlich nach Waschmittel. Komischerweise macht mich das traurig. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund habe ich an Tims Wäsche geschnuppert! Und gehofft, dass es nach ihm riecht! Genau das muss schleunigst aufhören.
Den Rest von meinem Freitagabend verbringe ich damit, genervt auf den Wäscheständer zu starren, der auf dem Balkon steht und dann wieder auf meinen Laptop. Ich habe immer noch keine Rückmeldung von dem Vermieter bekommen, den ich eben angeschrieben habe. Lustlos stütze ich meinen Kopf in die Hände und seufze. Das darf alles nicht wahr sein. Kurz bin ich davor, meinen heiß geliebten Rechner zu packen und aus dem Fenster zu schleudern, aber ich unterlasse es besser. Er gibt mir die Möglichkeit, so viel zu schreiben wie ich möchte. Meine Möglichkeit, ein klein wenig aus der Realität zu flüchten, mit meinen ganzen Kurzgeschichten und angefangenen Romanen. Oder – mir kommt ein Geistesblitz. Blitzschnell verfliegt mein Unmut, meine Finger fliegen über die Tastatur und rufen die Seite auf. Ohne noch auf das Keyboard zu schauen, tippe ich den Namen meiner Mutter ein und drücke auf Enter. Die Websuche zeigt mir etliche Ergebnisse an. Mit klopfendem Herzen klicke ich mich durch jeden Bericht und jeden Eintrag, doch nirgends finde ich etwas über meine Mutter. Und auch all die Männer, die mir angezeigt werden, haben nichts mit meinem Vater gemeinsam, jedenfalls nicht so, wie ich ihn mir vorstelle. Ein wenig muss ich ja aussehen wie er. Und er muss in dem Alter meiner Mutter sein, obwohl – schon wieder beschleunigt sich mein Puls. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist mein Vater um einiges älter. Das könnte jedenfalls eine Erklärung sein, warum meine Mutter nicht über meinen Vater spricht. Hatte sie etwas mit einem Älteren? Hatte sie eine kurze Affäre oder eine einmalige Nacht mit jemandem? Weiß sie nicht, wer mein Vater ist? Aber dem würde das Bild, das ich damals mit Tim auf dem Dachboden gefunden habe, widersprechen. Und natürlich, dass er der Grund ihres Verschwindens ist. Ich kann es immer noch nicht ganz realisieren: Ich bin eine erwachsene Frau, habe mein Abitur, habe studiert und hatte bis vor kurzem einen gut bezahlten Job. Und trotzdem bin ich unfähig herauszufinden, wo meine Mutter ist.

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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...