sechsunddreißig

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Die nächste Woche zieht träge dahin. Nachdem ich entlassen wurde, lebe ich zu Hause weiter, indem ich dort im Bett liege und nur zwischendurch zum Essen oder Duschen mein Zimmer verlasse. Mehr Energie kann ich nicht aufbringen.

Zoe kommt mich am Sonntag besuchen und bringt einen riesigen Blumenstrauß und einen Süßigkeitenvorrat von sich und den Jungs vorbei. Wir führen ein langes Gespräch. Man merkt ihr an, wie sehr sie das alles mitnimmt. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen. Ich habe ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, weil sie von gar nichts wusste - gleichzeitig hätte es das nicht besser gemacht. Es hätte nichts verhindert und alles wäre genauso gelaufen.

In der Schule bin ich krank geschrieben. Zoe hält mich auf dem Laufenden, was den Schulstoff angeht, doch ich habe absolut nicht die Energie, irgendetwas nachzuarbeiten. Auch wenn mich ein schlechtes Gewissen plagt, kann ich mich nicht aufraffen.

Mum bleibt seitdem zu Hause und arbeitet nur gelegentlich von hier. Sie versucht sich, so gut es geht, um mich zu kümmern. Doch ihre Versuche, mich zum Rausgehen zu animieren, bleiben erfolglos. Sie gibt sich so viel Mühe, dass ich mich ihr gegenüber schlecht fühle. Sie kocht jeden Tag frisch, auch wenn das eigentlich gar nicht ihr Ding ist, sie backt sogar Kuchen. Ich wünschte, dass mich all das aufmuntern würde. Doch irgendwie bin ich so sehr in meinem Tief gefangen, dass ich mich viel zu wenig freuen kann.

Luke kommt so oft wie möglich in mein Zimmer und setzt sich zu mir. Manchmal, wenn wir sicher sind, dass keiner reinkommt, legt er sich zu mir ins Bett - ohne seinen Arm um mich zu legen, das hat er nicht mehr gewagt und ich weiß auch, dass es besser so ist. Wie ich reagieren würde, kann ich selber nicht einschätzen.

Ich spreche kaum mit den anderen und merke ihre Vorsicht mir gegenüber. Als wäre ich ein rohes Ei. Wobei ich das ja irgendwie auch bin. Ich laufe herum wie ein Zombie. 

Am Ende der nächsten Woche kommt Mum schließlich in mein Zimmer und setzt sich zu mir aufs Bett. "Isabella... Ich glaube, es wird Zeit, dass wir darüber reden, wie es weiter gehen soll."

Ich seufze. "Ich weiß es doch nicht. Wüsste ich das, hätte ich es schon längst gesagt."

Mum nickt. "Ich kann das auch nicht einfach so entscheiden. Aber wir können ja gemeinsam eine Lösung finden, oder nicht?"

Ich zucke mit den Schultern.

"Schätzchen, ich weiß, wie schwierig das für dich ich. Doch irgendwie müssen wir den nächsten Schritt gehen, damit es auch irgendwann wieder besser werden kann. Ich habe für dich am Montag einen Termin bei einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin ausgemacht. Vielleicht kannst du dort besser über alles reden als mit uns."

Ich protestiere nicht. Dass ich mich dadurch besser fühlen werde, bezweifle ich. Durch Reden fühlt sich alles nur noch schlimmer an. Aber Mum hat Recht - für immer so zu leben, wie ich es jetzt gerade tue, ist sicher auch nicht die Lösung.

"Und dann sollten wir überlegen, wie wir vorgehen, was diese... Jungs angeht." Mum spricht vorsichtig, doch verbirgt ihre Abscheu nicht. "Wir können das zusammen entscheiden, du musst das nicht alleine machen."

Ich setze mich etwas auf. "Ja. Ich weiß. Ich habe nachgedacht. Hatte ja auch eine Menge Zeit zum Nachdenken." Ich ringe mir ein gestelltes Grinsen ab, wobei ich mich selbst ziemlich bedauerlich finde. "Ich will keinen Gerichtsprozess. Du hast ja selber gehört, dass das vermutlich nichts bringen würde. Und dann würde mit ihnen alles nur noch schlimmer werden."

Mum nickt langsam. "Ja, das habe ich mir schon gedacht. Ich hätte es gut gefunden, sie hätten eine Anklage verdient. Aber wenn du das nicht möchtest, dann ist das okay so."

"Und die Schulleitung informieren... Ich weiß nicht. Was würde das denn bringen?"

"Eine ganze Menge sogar.", sagt Mum. "Vermutlich würden sie zunächst vorläufig suspendiert werden. Mit etwas Glück verlassen sie die Schule dann freiwillig. Oder sie werden gezwungen. Das ist kein Gerichtsprozess, also wirst du wahrscheinlich weniger Probleme dadurch bekommen. Und die Chancen sind gut, dass du sie dann in der Schule los wärst."

Ich nicke. "Ja. Aber was wenn nicht?"

"Wie gesagt... Ich bin mir ziemlich sicher, dass das klappen wird. Du hast deine Freunde auf deiner Seite und es gibt die Ergebnisse aus dem Krankenhaus und von der Polizei. Einen Schulverweis bekommt man schneller, als du denkst." Mum grinst. "Ich bin schließlich selbst verwiesen worden, und das wegen einer Lappalie."

Diesmal muss ich ehrlich lachen. Mum hat damals aus Boykott mehrere Feuerlöscher geleert und die Flure mit Schaum gefüllt. Ein bisschen hat sie Recht - wenn man schon wegen so etwas der Schule verwiesen wird, dann wahrscheinlich erst Recht wegen der Aktion von Louis, Josh, Matt und Noah.

"Vielleicht bist du noch nicht einmal die erste, die wegen dieser Typen die Schulleitung anspricht. Soll ja nicht das erste Mal gewesen sein, dass sie Mädchen so behandelt haben.", sagt Mum. Wut klingt in ihrer Stimme mit.

Ich nicke. "Ich überlege es mir."

"Ich würde es richtig finden.", sagt Mum. "Wir könnten Montag früh gemeinsam dorthin fahren. Luke könnte zu dem Gespräch mitkommen. Oder Zoe."

"Ja, ich denke drüber nach. Ich sage dir dann Bescheid.", sage ich. 

"Gut." Mum erhebt sich und streckt mir eine Hand entgegen.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. "Was soll das?"

"Wir gehen jetzt raus. Das hast du dringend nötig, du siehst aus wie ein Gespenst. Das ist der Vitamin D-Mangel."

Ich schüttele sofort den Kopf. "Nein. Ich gehe nicht raus."

Mum legt ihren Kopf schief. "Wir müssen nicht unter Menschen, wenn du nicht willst. Aber in den Garten. Ein bisschen Sonne und frische Luft tanken."

Weil ich weiß, dass sie so schnell nicht aufgeben wird, lasse ich mich von ihr aus dem Bett ziehen. Dann tausche ich meinen langen Schlafanzug gegen ein kurzes, sommerliches Outfit. Es fühlt sich merkwürdig an, sich nach einer Woche wieder so anzuziehen. Immer noch zieren einige blaue Flecke meinen Körper und bei dem Anblick überkommt mich eine Gänsehaut. Sie erinnern mich schmerzhaft an das, was passiert ist. Ich versuche, nicht hinzusehen und trete stattdessen raus auf die Terrasse, wo Mum es sich schon in einer Gartenliege bequem gemacht hat.

Sie drückt mir eine Limo in die Hand, als ich mich auf die Liege neben sie lege. "Hier. Wie früher."

Ich muss lächeln. Ganz kurz brennen Tränen in meinen Augen, als ich an "früher" denke. Es ist keine zwei Monate her, doch kommt mir vor wie ein anderes Leben. Alles hat sich verändert seitdem. Früher saßen wir so auf der Holzbank in unserem heruntergekommenen Vorgarten, haben Dosenlimo getrunken und Tiefkühlpizza gegessen, weil Mum nicht gekocht hat. Jetzt leben wir in einer völlig anderen Welt und haben Aussicht auf einen riesigen Garten mit dem Meer dahinter. Nur die Limo, die haben wir noch.

"Du weißt doch, dass ich für dich da bin, oder Isabella?", fragt Mum.

Ich schniefe leise. "Ja, Mum. Weiß ich. Ehrlich." Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, wir hätten uns distanziert. Jetzt ist mir klar, dass wir nur anders leben, in so etwas ähnlichem wie einer Familie und in einer anderen Stadt. Doch sie ist immer noch meine Mum und die Person, der ich mehr vertraue als jedem anderen Menschen. Die Person, die mich immer noch am Besten kennt.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt