sechzig und das Ende

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Als Luke und ich uns zum ersten Mal als Paar in der Schule zeigen, werden wir von Blicken natürlich nicht verschont. Erst einmal fühle ich mich verunsichert, als Luke in der Pause ohne zu Zögern zu meinem Schließfach kommt und mich vor allen Menschen küsst. Entweder haben die Leute mittlerweile mitbekommen, dass wir Stiefgeschwister sind, oder sie haben einfach absolut nicht damit gerechnet, dass aus uns was werden könnte.

Luke grinst, als er sieht, wie unangenehm mir die Situation ist. "Schämst du dich etwa für mich?"

Ich lache und wende mich ab, um mein Schließfach abzuschließen. "Nein. Aber ich glaube, ich muss mich noch ein bisschen an diese Situation gewöhnen. Und vor allem an die Blicke."

Luke nimmt meine Hand und geht dann gemeinsam mit dir nach draußen. "Das wirst du auch noch. Bald interessiert es niemanden mehr. Und bis dahin solltest du es genießen."

Genießen - das fällt mir schwer. Aber ich schaffe es immer besser, die Blicke auszublenden und mit unangenehmen Fragen von Mitschüler:innen umzugehen, und nach einigen Tagen interessiert es tatsächlich niemanden mehr - genau, wie Luke es mir angekündigt hat. Auch unsere Eltern scheinen sich langsam an den Zustand zu gewöhnen. Luke und ich geben uns aber auch größte Mühe, es vor ihnen nicht so offensichtlich zu machen. 

An einem Nachmittag gehen Luke und ich gemeinsam am Meer spazieren. Zum ersten Mal, seit es passiert ist, gehen wir an der Stelle entlang, an der ich die schlimmste Erfahrung meines Lebens machen musste. An der Stelle, an der ich völligen Kontrollverlust erlebt habe.

In den letzten Wochen habe ich die wenigen Erinnerungen, die ich an diese Nacht habe, verdrängt. Immer mal wieder kamen sie an die Oberfläche und jedes Mal tat es weh, ihnen ausgesetzt zu sein. Deshalb rast mein Herz auch jetzt, als wir uns dem Strandabschnitt nähern, an dem es passiert ist.

Lukes Hand umschließt meine und er drückt sie leicht. Er wirft mir einen prüfenden Blick von der Seite zu. "Bist du okay?"

Ich schaue ihn nicht an. Mein Blick ist stattdessen auf die Mauer gerichtet, dann auf den Boden, dann auf das Meer. Langsam nicke ich. "Ja. Ja, ich denke schon.", bringe ich hervor.

Zwischendurch flackern Bilder vor meinem inneren Auge auf und ich spüre Hände auf meiner Haut, die da nicht sind. Trotzdem ist es so, wie ich es gesagt habe - ich bin okay. Mein Puls verlangsamt sich wieder. Die Panik, mit der ich gerechnet habe, kommt nicht. Und der Kloß in meinem Hals wird nicht zu Tränen, sondern verschwindet nach einer Weile.

Luke und ich laufen langsam weiter, bis wir den Abschnitt hinter uns gebracht haben. Zum ersten Mal bleibe ich stehen und schaue ihn wieder an. Ihm ist deutlich anzusehen, dass auch ihn diese Situation nicht kaltlässt. Zwischen seinen Augenbrauen hat sich eine besorgte Falte gebildet und ein trauriges Lächeln umspielt seine Lippen, als ich meine Hände an seinen Rücken lege.

"Ich bin okay.", wiederhole ich und schaue ihm tief in die Augen.

Luke schlingt seine Arme um mich. "Ich bin stolz auf dich. So unglaublich stolz."

Ich lege meinen Kopf auf seine Brust, spüre seine Wärme, höre seinen Herzschlag. Ich liebe diesen Mann. 

Ich werde niemals vergessen können, was hier passiert ist, was mir eine so harte Zeit bereitet hat und auch immer noch bereitet. Ich kann auch nicht davon ausgehen, dass ab diesem Punkt der Schalter umgelegt ist und es mir für immer besser geht. Ich kann nicht erwarten, dass ich nie mehr unter dem Erlebten leiden werde. Doch es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es wird schwer, aber es wird auch besser. Und langsam habe ich das Gefühl, dass ich hier jetzt glücklich sein darf.

Tief atme ich Lukes Geruch ein. Seinen Geruch nach Meer, nach Freiheit, nach Zitronen, nach Sommer, nach meinem Wohlfühlort. Das ist er und er wird es für immer sein.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt