zweiundvierzig

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In der Schule gewöhne ich mich in den nächsten Tagen wieder gut ein. Es ist immer wieder herausfordernd, neuen Lehrern entgegenzutreten und zu wissen, dass sie ganz genau erfahren haben, was passiert ist. Ich führe noch das ein oder andere unangenehme Gespräch, doch mit den Tagen legt es sich. Auch meine Mitschüler scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass ich wieder da bin und stellen keine Fragen mehr.

Am Donnerstagabend kommt meine Mutter in mein Zimmer und nimmt auf  meinem Sofa Platz. Fragend sehe ich sie an.

"Du hast es echt gemütlich hier.", sagt sie und schaut sich ausgiebig um.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und grinse. "Ach, deshalb bist du gekommen? Um mir das zu sagen?"

Mum grinst ebenfalls und legt den Kopf schief. "Nein. Ich wollte nur sagen... James und ich werden am Wochenende nach Alabama fahren. Ich treffe dort Alice, meine Lektorin, um ein paar Sachen für mein neues Buch zu besprechen. Und bei der Gelegenheit wollte ich auch gleich ein paar alte Freundinnen treffen und ihnen James vorstellen."

"Cool.", sage ich trocken. An meine Heimat zu denken, fühlt sich komisch an. Wie ein fremder Ort aus der Vergangenheit.

"Deshalb wollte ich dich fragen, ob du gerne mitkommen möchtest. Vielleicht magst du dort ja auch mal wieder ein paar Leute treffen. Oder einfach ein bisschen Landluft genießen." Mum grinst.

Ich seufze. Will ich das? "Ich weiß nicht...", setze ich an.

Meine Heimat fühlt sich jetzt an wie ein fremder Ort. Und ein ziemlich hässlicher Ort noch dazu. Ich weiß nicht genau, was ich dort soll. Mit den Leuten, die ich aus Alabama kannte, hatte ich seit dem Umzug keinen Kontakt mehr. Und ich habe mich so stark verändert, dass es vermutlich komisch wäre, sie jetzt wieder zu treffen. Irgendwie fühlt es sich nicht richtig an. "Nein. Ich glaube, ich bleibe lieber hier."

Mum nickt. "Okay. Versteh ich. Aber... Ist das denn okay für dich, wenn ich weg fahre am Wochenende? Ich meine..."

Ich unterbreche sie sofort. "Mum. Klar ist das okay für mich. Ich komme sehr gut alleine klar." Seit der Party ist meine Mum ziemlich überbesorgt geworden. Aber immer unter ihrer Obhut zu stehen, ist ja auch nicht das richtige. Ich bin froh, dass ich in dieser Woche wieder angefangen habe, ein halbwegs normales Leben zu führen. Das soll jetzt auch so weiter gehen.

"Super. Luke ist ja sonst auch noch da."

Ich lächele. "Na dann."

"Ich bin froh, dass ihr beiden euch so gut versteht.", sagt meine Mutter. "Am Anfang habe ich mir ja ein bisschen Sorgen gemacht. Aber jetzt harmoniert es ja ganz gut, oder?"

"Mhm." Ich nicke. Wenn sie wüsste, wie gut es tatsächlich harmoniert... "Ja, wir verstehen uns wirklich gut." 

"Das freut mich echt." Mum steht auf und drückt mir einen mütterlichen Schmatzer auf die Wange. "Na dann. Wir fahren vermutlich morgen Mittag los. Nach der Schule werden wir uns wohl nicht mehr sehen. Aber wir legen euch Geld in die Küche, damit ihr über die Runden kommt."

"Müsst ihr nicht.", sage ich. Es ist mir wirklich unangenehm, so viel von James' Geld anzunehmen. Früher hatte ich kaum Taschengeld und kam trotzdem klar. Jetzt fühlt sich mein Konto plötzlich immer mehr und ich weiß kaum, was ich damit tun soll. Ein Wochenende würde ich damit jedenfalls locker über die Runden kommen.

"Machen wir trotzdem.", ruft Mum, die mein Zimmer schon verlassen hat. Ich grinse. Na gut, dann werden wir das Wochenende wohl genießen.

***

Am Freitag koche ich nach der Schule eine große Portion Spaghetti. Luke ist zwar noch nicht wieder da, aber für ihn mache ich gleich was mit. Er wird sicher froh sein, nach dem Training was zu essen bekommen.

Danach gehe ich hoch in mein Zimmer und erledige so gut es geht meine Hausaufgaben. Ich bin nicht ganz zufrieden mit mir. Bevor ich die zwei Wochen gefehlt habe, kam ich in allen Fächern ganz gut mit. Jetzt verstehe ich manches gar nicht. Die Hausaufgaben dauern ewig.

Plötzlich öffnet sich meine Zimmertür und ich fahre jäh zusammen. "Luke... Du hast mich erschreckt."

Er kommt rein und setzt sich auf den Boden neben meinem Schreibtisch. "Sorry. Wollte ich nicht."

"Ich hab gar nicht mitbekommen, dass du nach Hause gekommen bist."

"Zu vertieft in deine Hausaufgaben?", fragt er und deutet auf mein Matheheft.

Ich nicke seufzend. "Ja, scheint so."

"Danke für die Nudeln.", sagt er. "Die waren doch für mich, oder? Hat echt gut geschmeckt."

"Kein Problem.", sage ich grinsend.

Luke steht vom Boden auf und stellt sich neben mich. "Wie läuft es denn mit der Schule? Kommst du einigermaßen klar?"

Ich lehne mich frustriert zurück. "Geht so. Mathe nervt mich."

Luke grinst. "Da hast du Glück. Du hast nämlich zufälligerweise einen Stiefbruder, der gar nicht so schlecht in Mathe ist."

Luke erstaunt mich immer wieder. Die nächsten 15 Minuten erklärt er mir Mathe, als wäre es nichts. Und ich verstehe es sofort. Warum wird in der Schule eigentlich alles immer zehn Mal komplizierter erklärt, als es eigentlich ist? Danach versuchen wir uns noch an Bio. Keine halbe Stunde später bin ich mit allem fertig und habe das Gefühl, dass es endlich klick gemacht hat.

"Du bist der Beste, Luke.", sage ich ehrlich. Ich weiß nicht warum, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass er in der Lage ist, mir das so gut zu beizubringen.

"Weiß ich doch.", sagt er schmunzelnd. "Kannst du mir gerne öfter sagen."

"Nur wenn du es verdienst." Ich schlage meine Hefte zu und schaffe etwas Ordnung auf dem Schreibtisch. "So, das war es mit Schule für heute."

"Na, dann hast du ja jetzt Zeit für mich.", sagt Luke begeistert. "Mir ist langweilig."

Ich schüttele lachend den Kopf und stehe auf. "Du bist wie ein kleines Kind, ehrlich. Du bist nicht in der Lage, dich alleine zu beschäftigen."

"Naja, wäre ich schon. Aber warum sollte ich das, wenn ich dich habe?" Luke grinst ironisch, doch ich merke, dass er seine Worte auch ehrlich meint. Seine Hände legen sich federleicht an meine Taille und ich gehe wie ferngesteuert einen Schritt nach vorne. Diesmal zucke ich nicht zurück, als er mich berührt.

Ich lege meine Hände auf seine Brust. Er ist warm. Sein Atem streift meine Stirn und ich schließe kurz die Augen, um diesen Moment einfach zu genießen.

Ich schaue zu ihm hoch und lasse mich wieder von seinem Blick fesseln. Von dem dunkelgrün seiner Augen. Mit einem Mal wird mir bewusst, wie viele Emotionen eigentlich in seinem Blick stecken. Wie viel... Zuneigung. Und mir wird immer mehr klar, dass ich ihm vertrauen kann. Dass er ehrlich zu mir ist und ich ihm tatsächlich wichtig bin.

Ich denke nicht länger nach, sondern folge einfach dem Wunsch, den ich seit Tagen habe... Ihn endlich wieder zu küssen. Es ist ein sanfter, federleichter Kuss, in dem dennoch so viele Emotionen liegen, dass mir beinahe schwindlig wird. Lukes Lippen fühlen sich genauso warm und weich an, wie ich sie in Erinnerung hatte. Seine Hand wandert unter mein Top und hinterlässt eine kribbelnde Spur auf meiner Haut. Nach einem Moment löse ich mich wieder von ihm. 

Lukes Augen sind noch geschlossen und ich fahre mit meinen Fingern langsam über sein Gesicht. Es ist so wunderschön, ihn anzusehen. Wie kann ein Mensch so vollkommen sein? Lukes Gesicht hat winzige Makel: Die kleine Narbe auf dem Wangenknochen, die etwas unsymmetrische Nase, die feinen Äderchen auf seinem Augenlid, die winzigen Lachfalten am Auge. Und dennoch sieht er so perfekt aus.

In diesem Moment habe ich das Bedürfnis, ihm zu sagen, dass ich ihn liebe. Ich traue mich nicht, es zuzugeben, aus Angst, dass es das zwischen uns kaputt machen könnte. Doch es ist so. Es ist längst zu spät, um diese Gefühle noch zurückhalten zu können. Ich habe mich viel zu sehr in Luke verliebt.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt