fünfzig

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Zu Hause angekommen verkrieche ich mich sofort in mein Bett. Das fühlt sich an wie ein Schutzraum, in dem ich irgendwie mit meinen Problemen klarkommen kann. Im  Großen und Ganzen fühle ich mich überfordert - dieses Wort trifft es wohl am Besten. Ich weiß nicht, was genau da gerade passiert ist, warum ausgerechnet jetzt, warum es so heftig war.

Ich nehme mein Handy in die Hand und suche Jennys Nummer heraus. Wenn mir jemand jetzt Erklärungen bieten und mir helfen kann, dann sie.

Jenny meldet sich sofort. "Hallo... Hier ist Isabella.", sage ich.

"Ach, Isabella. Du hast Glück, ich habe gerade eine halbe Stunde Pause. Was gibt es denn?"

Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. "Mir ist gerade was sehr Blödes passiert und ich dachte, du kannst vielleicht... helfen."

"Das hoffe ich doch.", sagt meine Therapeutin. "Erzähl einfach."

Ich seufze. "Also, ich hatte gerade Sport in den letzten beiden Stunden.", fange ich an. "Wir haben geturnt. Unser Lehrer ist zwischendurch rumgegangen und kam dann natürlich auch zu mir. Ich war gerade am Reck und er hat dann ohne Ankündigung Hilfestellung gegeben und mich am Bein angefasst. Ich nehme ihm das jetzt nicht übel oder so... Aber da ist einfach eine Sicherung durchgebrannt bei mir. Mir ist komplett schwarz vor Augen geworden und ich bin erst einmal runtergefallen und lag dann nur da herum. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich überhaupt wieder irgendetwas mitbekommen habe."

Jenny wartet noch einen Moment, bevor sie antwortet. "Und in dem Moment hast du dich wahrscheinlich wieder zu dem schlimmen Ereignis zurückversetzt gefühlt, richtig?"

Ich nicke, auch wenn sie das natürlich nicht sehen kann. "Ja. Es war als wäre ich für eine Sekunde wieder dort." Meine Stimme zittert. "Ich hab sie richtig gefühlt und gesehen."

"Das muss sehr schlimm gewesen sein.", sagt Jenny ruhig. "Es ist genau das passiert, worüber wir gestern gesprochen haben: Wenn man traumatisierende Erlebnisse lange verdrängt, gibt es irgendwann einen Knall und alles kommt schlagartig an die Oberfläche. Es baut sich immer mehr Druck auf und irgendwann kann der Kopf einfach nicht mehr."

"Mhm.", mache ich. "Wird das wieder passieren?"

"Kann schon sein. Wenn du es weiter im Alltag verdrängst, kann es sein, dass du dann in so einem Moment plötzlich ganz stark erinnert wirst."

"Aber wie bekomme ich das hin?", frage ich. "Also, dass ich es nicht verdränge? Ich weiß irgendwie nicht..."

"Alles gut.", sagt Jenny. "Ich glaube, es würde helfen, wenn du etwas offener damit umgehen würdest. Du darfst immer noch traurig und erschüttert sein. Niemand wird dir sagen, dass du langsam keine Angst mehr haben solltest. Es ist okay, in manchen Momenten einfach mal auszusprechen, dass dir das gerade ein ungutes Gefühl gibt und dass du dich erinnert fühlst. Dann reicht ein kurzes Gespräch darüber, und dann ist es wahrscheinlich besser. Was gibt es in deinem Alltag, was dich unwohl fühlen lässt?"

"Die Schließfächer in der Schule.", sage ich sofort, ohne länger darüber nachdenken zu müssen. Jedes Mal, wenn ich dort bin, habe ich wieder die allererste Begegnung mit den Typen im Kopf.

"Okay. Das heißt, das nächste Mal, wenn du dort bist und daran denkst, musst du den Gedanken nicht direkt wieder verdrängen. Du kannst auch mit einer Person, die du gut kennst darüber reden und einfach mal aussprechen, wie du dich fühlst. Und dann wird es in Zukunft auch besser sein."

Ich seufze. Das klingt nicht einfach, aber vernünftig. "Okay. Ich werde es versuchen."

"Und eins noch: Wenn du irgendwann mal im Alltag das Gefühl haben solltest, mit einer Person darüber reden zu wollen, dann mach das einfach. Du musst dich nicht zurückhalten, um andere zu schützen."

"Okay.", sage ich. "Danke, Jenny."

"Gar kein Problem. Mach's gut, du schaffst das!"

Mit einem Lächeln lege ich auf. Ich fühle mich schon etwas besser. Das Gespräch hat mir zumindest ein bisschen geholfen, die Situation einzuordnen und ich weiß jetzt, was ich in Zukunft machen könnte. Damit bin ich schonmal einen Schritt weiter als vorher. Trotzdem bleibe ich noch im Bett liegen, bis Luke nach Hause kommt. Mir ist nicht wirklich danach, etwas zu machen oder produktiv zu sein.

Luke öffnet meine Zimmertür - natürlich ohne zu klopfen - und sieht mich stirnrunzelnd an. "Hey? Geht es dir nicht gut? Du bist so früh. Bist du krank?" Er kommt herein und tritt ein paar Schritte näher.

Ich zögere. Normalerweise wäre ich jetzt wahrscheinlich aufgesprungen, hätte mir eine Ausrede ausgedacht und mich normal verhalten. Aber nach dem Gespräch mit Jenny gerade halte ich das nicht unbedingt für die klügste Herangehensweise. "Im Sportunterricht... ist etwas ziemlich doofes passiert.", sage ich schließlich. 

"Okay...", sagt Luke. "Willst du noch mehr erzählen?"

"Ja.", sage ich. Luke legt sich neben mich ins Bett. Seine Hand legt er auf meine Seite, was mich sofort ein bisschen sicherer fühlen lässt. Sein Blick fesselt wie immer meinen. Dann erzähle ich ihm langsam die ganze Geschichte.

"Danke, dass du mir das erzählt hast.", sagt Luke, als ich fertig bin. "Ist manchmal gar nicht so leicht, in deinen Kopf reinzuschauen, weißt du?"

Ich grinse ein bisschen. "Kann ich mir denken."

"Du bist wirklich eine der stärksten Personen, die ich kenne, Bella. Das meine ich ernst.", sagt Luke. Sein Blick hält meinen gefangen. "Du hältst so viel aus in letzter Zeit. Dass es da früher oder später mal wieder zu einem Systemabsturz kommt, ist doch ganz natürlich."

Ich nicke langsam. Das Wort "Systemabsturz" finde ich ganz treffend. "Ja, das stimmt schon. Es hat mich einfach sehr überrollt. Und es ist mir ziemlich peinlich."

"Ach was, das muss dir nicht peinlich sein. Die Lehrer wissen doch sowieso Bescheid, meintest du. Und was die anderen denken, ist doch egal. Das kommt dir jetzt ganz dramatisch vor, aber in ein, zwei Wochen denkt da niemand mehr dran."

Ich lächele, dann schmiege ich mich enger an ihn. "Wie sehr ich dich einfach liebe...", spreche ich meine Gedanken impulsartig aus. Dann erstarre ich. Oh Gott. Habe ich das gerade wirklich gesagt? 

Habe ich, denn Lukes Hand, die zuvor noch meinen Rücken gestreichelt hat, ist ebenfalls erstarrt. Mein Kopf läuft hochrot an. Genau das war immer die Grenze, die wir beide gezogen haben. Zu Liebe darf es niemals kommen. Und jetzt? Das größte Problem ist, dass ich die Worte durchaus ernst gemeint habe. Ich hätte sie nur nie aussprechen dürfen.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt