sechs

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Als ich von der Schule nach Hause komme, bin ich erst einmal alleine. James ist in seiner Praxis und Mama hat sich hier in Key West ein Büro gemietet, weil sie behauptet, sich dort besser aufs Schreiben konzentrieren zu können als zu Hause. Ich habe keine Ahnung, an was für einem Buch sie momentan arbeitet, doch ich bin sicher, dass mich wieder eine Peinlichkeit erwartet.

Ich esse eine Kleinigkeit, bevor ich hoch in mein Zimmer gehe. Ich fühle mich einsam in dem großen, leeren Haus. Luke ist beim Basketballtraining und kommt erst später wieder. In diesem Moment vermisse ich meine Heimat. Dort hätte Mum mich in solchen Momenten in den Arm genommen. Ich hätte mich unter meiner Bettdecke verkrochen und das Zimmer wäre zwar klein, aber wenigstens gewohnt und meins gewesen. Ich wäre zu einer Freundin gefahren oder wäre in die Kirche gegangen. Ich hätte gebetet, doch nicht einmal zu Gott fühle ich mich an diesem Ort nah. Stattdessen fühle ich mich einfach nur einsam.

Ich versuche, mich an meine Schulsachen zu setzen und mich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren, doch nach einer Weile gebe ich auf. Stattdessen lege ich mich ins Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und höre mir selbst beim Atmen zu. 

Ich kann nicht mehr verhindern, dass die Gedanken an heute sich mit aller Wucht zurück in mein Bewusstsein zwängen und mir für einen Moment den Atem nehmen. Mein Körper beginnt zu zittern. Ich fühle mich schrecklich, ekelhaft, abstoßend. Was habe ich nur falsch gemacht? Mit meiner Art sollte ich der letzte Mensch sein, den Typen wie Louis oder Noah in sexueller Hinsicht irgendwie anziehend finden. Mir wird erst jetzt bewusst, dass sie wahrscheinlich vorhatten, mich zu vergewaltigen. Vielleicht nicht heute, nicht in der Schule, aber sie hatten es vor.

Mein ganzes Leben lang war ich Gott nah, habe keine Gedanken an Unreinheit verschwendet, und jetzt nehmen mir andere Menschen genau diese Nähe zu Gott. Als hätten sie einen Keil zwischen Gott und mich getrieben.

Ich höre Luke erst, als er mein Zimmer betritt. Die Bettdecke, die ich um mich geschlungen habe, hat alle Geräusche gedämmt.

Ich spüre, wie die Matratze absinkt, als er sich neben mir niederlässt. "Isabella? Redest du mit mir?"

Ich reagiere nicht auf seine Worte. Nein, ich will nicht reden. Das macht das alles auch nicht mehr ungeschehen. Einige Sekunden später hebt Luke sanft die Decke an. Ich wehre mich nicht.

"Hey...", sagt er sanft. So liebevoll, wie er heute ist, habe ich ihn am Wochenende gar nicht kennengelernt. Es ist ungewohnt, doch ich mag es nicht, dass er nur aus Mitleid so ist.

Ich schließe die Augen und atme zittrig aus, als ich seine Hand wieder an meiner Wange spüre. Genau wie heute in der Schule. Sein Daumen zieht sanfte Kreise. "Wie geht es dir?"

Ich kann nicht mehr. In diesem Moment strömen alle Tränen, die ich den Tag über zurückgehalten hatte, aus mir heraus. Verdammt, ich will nicht heulen, aber ich kann es nicht aufhalten.

Luke zögert einen Moment, dann legt er sich neben mir auf mein Bett. Sein Körper ist meinem nah, zu nah. Ich versteife mich und zucke zurück, als er meinen Rücken berührt.

"Pschh, alles gut. Entspann dich. Ich bin es doch nur.", sagt er besänftigend. Mein Herz rast noch immer, doch ich versuche, mich zu beruhigen. Es ist nur Luke. Es ist niemand, der mich nicht berühren darf. Es ist keine Sünde. Und er ist niemand, vor dem ich Angst haben muss. Es ist nur Luke. 

Mein Atem beruhigt sich langsam. Lukes Hand umfasst meinen Hinterkopf und zieht mich an seine Brust, wo meine Tränen in seinem Tshirt versickern. Irgendwann lege ich meine Hand an seinen Rücken - das fühlt sich in diesem Moment irgendwie richtig an.

Es dauert eine Weile, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe. Schließlich drückt Luke mich leicht von ihm weg, um mir in die Augen schauen zu können. Doch seine Hand bleibt an meiner Taille liegen und streicht beruhigend über meine Haut. "Erzähl mir, was heute passiert ist.", sagt er leise. Seine Stimme ist ruhig.

Ich schließe noch einmal die Augen und atme tief durch. Doch ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann. "Ich... saß im Unterricht neben Louis.", beginne ich stockend zu erzählen. "Er hat mich später gefragt, ob ich die Pause mit ihm und Josh verbringen will. Ich dachte, ich könnte ihnen trauen, sie waren nett zu mir. Wir haben im Flur auf Noah und Matt gewartet und als sie dann kamen... da habe ich gemerkt, dass ich ihnen doch nicht trauen kann. Sie hatten ganz andere Absichten."

Ich mache eine Pause, und Luke hört nicht auf, in sanften Bewegungen über meinen Rücken zu fahren. "Was haben sie gemacht?", fragt er schließlich.

"Sie haben... Mich beleidigt, mich minderwertig und wie Dreck dargestellt. Sie haben mich festgehalten, auch mit Gewalt.", bringe ich mühsam hervor.

"Haben sie dich angefasst?", fragt Luke ruhig. Ich spüre seine unterdrückte Wut und weiß es zu schätzen, dass er sie in diesem Moment nicht herauslässt.

Ich schlucke trocken und atme zitternd aus. "Ja, sie... Noah hat mich angefasst. Ich habe versucht, mich zu wehren, habe Noah getreten und wollte weglaufen. Dann hat Matt mich am Hals festgehalten. Und dann kamt ihr.", beende ich die Erzählung. Ich bin erleichtert, dass ich es geschafft habe, alles auszusprechen, doch es fühlt sich nicht schön an, darüber zu reden.

Luke atmet tief durch und ich merke, wie er sich selbst beruhigen muss. Gleichzeitig fährt er mit der Hand zu meinen Haaren und streicht sanft dadurch. Ich wünschte, es würde sich nicht so gut anfühlen, hier so mit ihm zu liegen. Dennoch bin ich unendlich dankbar dafür, dass er für mich da ist.

"Warum bist du so zu mir?", wispere ich. 

"Wie bin ich denn?", erwidert Luke leise. Er schaut mir tief in die Augen, sein Blick ist warm und eindringlich. Seine Augen sind dunkelgrün und haben die Farbe von Moos.

"So... So liebevoll. Am Wochenende warst du noch ganz anders."

Luke ringt sich ein kleines Lächeln ab. "Ich war einfach überfordert am Wochenende. Dieser ganze Familienkram... damit kann ich nicht so gut umgehen." Er schweigt eine Sekunde. Ich bin mir sicher, dass das mit seiner verstorbenen Mutter zusammenhängt, doch ich wage es nicht, ihn in diesem Moment darauf anzusprechen. "Und außerdem habe ich nicht damit gerechnet, dass meine 'kleine Schwester' nur drei Jahre jünger ist als ich."

Ich muss schmunzeln. "Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass du älter bist. Das kam für mich auch ziemlich überraschend."

Luke lacht leise und ich spüre, wie sein Oberkörper unter meiner Hand vibriert. "Jedenfalls wusste ich am Wochenende nicht wirklich damit umzugehen und war dann womöglich etwas... abweisend. Es tut mir Leid, wenn ich mich manchmal so verhalte. Ich kann echt scheiße sein, wenn ich einen schlechten Tag habe. Aber eigentlich bin ich ganz lieb."

Ich grinse. "Ist das so?"

Er nickt. "Ja, ich denke schon. Außerdem bist du ja jetzt so etwas wie meine kleine Schwester. Und auf die muss man aufpassen."

Wärme durchflutet meinen Körper. Doch gleichzeitig keimt in diesem Moment der unpassende Gedanke in mir auf, dass es auch schön wäre, wenn wir keine Stiefgeschwister wären, sondern uns einfach so kennengelernt hätten. Dann hätten wir ganz andere Möglichkeiten.

"Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben.", sage ich ehrlich.

Luke lächelt breit und ehrlich. "Ich bin auch froh, Isabella."

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt