neunundvierzig

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Am nächsten Tag in der Schule haben wir Sport. Immerhin erst in den letzten beiden Stunden, sodass ich nicht völlig verschwitzt in die letzten Unterrichtsstunden muss. Im Gegensatz zu anderen (Luke zum Beispiel) bin ich nämlich immer wie verrückt am Schwitzen und nach der geringsten Bewegung rot wie eine Tomate. Ich würde mich nicht als völlig unsportlich bezeichnen, aber von einem trainierten Körper bin ich leider weit entfernt. Ich bin einfach ein ziemlicher Lauch, was eben auch beinhaltet, dass mir einiges an Muskeln fehlt. Zum Trainieren bin ich nur leider eindeutig zu faul.

Bei Zoe ist Sport schon eher ihr Ding. In ihrer Freizeit turnt sie und spielt Volleyball. Vielleicht sollte ich mir daran mal ein Beispiel nehmen.

"Mit Fußball sind wir jetzt durch, einige werden sich freuen.", kündigt unser Sportlehrer zu Beginn der Stunde an. Ich bin tatsächlich ein bisschen erleichtert, das war nicht unbedingt mein Ding. "Und unser neues Thema ist..." - er macht eine Spannungspause - "Turnen!"

Zoe macht ein freudiges Geräusch und ich sehe, wie sich auch die meisten anderen Mädels zu freuen scheinen. Ich dagegen bin nicht so begeistert. Ich finde Turnen fast noch schlimmer als Fußball. Mir fehlt da ein bisschen der Adrenalinkick, ich brauche was Spannendes, was man am Besten gegeneinander spielt. Aber wer weiß, vielleicht entdecke ich diese Sportart ja noch für mich. Ich sollte dem Ganzen zumindest eine Chance geben.

Erst einmal verbringen wir viel zu viel Zeit damit, alle möglichen Geräte aufzubauen. Der Vorteil ist, dass dafür einiges an Zeit für die aktive Bewegung drauf geht, aber besonders viel Spaß macht es trotzdem nicht. 

Das Gute ist, dass wir danach frei die Geräte nutzen dürfen. Die Regel ist, dass wir am Ende des Halbjahrs alle an drei verschiedenen Geräten unserer Wahl Übungen mit verschiedenem Schwierigkeitsgrad präsentieren sollen und dabei benotet werden. Ich sollte also vielleicht doch ein bisschen Einsatz zeigen, um wenigstens am Ende eine einigermaßen gute Note zu bekommen.

Zoe zieht mich bestimmend zum Reck. "Das ist ganz gut für den Einstieg. Und außerdem mein Lieblingsgerät."

Wir Beiden sind zum Glück die einzigen, die sich direkt für das Reck entschieden haben, somit haben wir erst einmal freie Bahn. Ich schaue mir erst einmal in Ruhe die Anleitungen für die Übungen an. Lesen und lernen kann ich nämlich eindeutig besser als die praktische Anwendung. Währenddessen macht Zoe einen motivierten Aufschwung und danach ein paar verrückte Rollen und Umdrehungen, die von ihr total locker aussehen, die ich aber nie im Leben schaffen könnte. Beeindruckt schaue ich ihr zu.

"Komm, Isabella, probieren geht über studieren." Unser Sportlehrer kommt motiviert auf uns zu. Ich grinse beschämt. Na toll. Dann komme ich jetzt wohl nicht drumherum, mich wirklich an diese Stange zu hängen. Und das auch noch vor seinen Augen. Ich mag den Lehrer zwar wirklich gerne, er ist sehr nett und witzig, aber er wird mittlerweile schon erkannt haben, dass ich nicht die größte Sportskanone bin.

Was soll's. Ich nehme ein bisschen Anlauf und versuche mich an einem Aufschwung. Ich bin ein bisschen beeindruckt von mir selber, als ich es tatsächlich schaffe. Wer hätte das gedacht. Unter Druck und den Augen des Lehrers schafft man wohl doch mehr, als man denkt.

"Na siehst du, klappt doch super!", sagt er bestärkend. Ich merke ihm seine Begeisterung an, was wahrscheinlich daran liegt, dass er selbst von meinen Künsten überrascht ist. "Und jetzt kannst du genau in der Position bleiben und nochmal eine Rolle versuchen."

"Rückwärts?", frage ich kritisch. Meine Arme fangen schon an, in der aufgestützten Position wehzutun. Es ist echt erbärmlich, wie wenig Muskelmasse ich habe. Beneidenswert, mit welcher Motivation und Kraft sich Zoe immer noch um das Reck schwingt. Unser Lehrer scheint das schon von ihr erwartet zu haben, er sieht zumindest nicht besonders überrascht aus.

"Ja, rückwärts. Das ist nicht so schwer, wie du vielleicht denkst."

Na gut. Ich nehme ein bisschen Schwung mit den Beinen und versuche dann, sie um die Stange zu schleudern. Klappt dann leider doch nicht so gut und einfach. Kurz nach der Hälfte verliere ich den Schwung und versuche mit aller Kraft, die Übung noch irgendwie zu beenden.

Plötzlich spüre ich Hände an meinen Beinen, die mir helfen wollen. Eigentlich. Eigentlich will unser Sportlehrer mir nur helfen, den Schwerpunkt wieder zu verlagern. Eigentlich meint er es nur gut.

In diesem Moment brennt eine Sicherung bei mir durch. Meine Sicht wird schwarz, dann sehe ich kurze Lichtblitze. Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Plötzlich spüre ich wieder die Hände von Louis an meiner Hüfte, die von Noah an meinen Beinen, überall. Ich gebe ein gequältes Keuchen von mir. Dann schüttele ich mein Bein, hole aus,  tue alles, um dieses Gefühl loszuwerden. Meine Arme geben nach. Mein Körper fällt nach vorne und ich stürze auf den Boden. Ich merke noch, wie mein Sportlehrer versucht, den Sturz etwas abzufangen, indem er meine Schultern umfasst, damit ich wenigstens nicht mit dem Kopf zuerst auf dem Boden lande. 

Seine Hände an meinen Schultern machen die Situation leider nicht viel besser. Stattdessen kommen die nächsten Flashbacks. 

"Stopp, bitte nicht, bitte nicht!" In Panik hole ich aus und treffe meinen Lehrer mit Wucht am Bein. Mir ist immer noch schwarz vor Augen und ich spüre, wie mir Tränen über die Wangen laufen. Ich bekomme nicht wirklich mit, was um mich herum passiert. In meinen Ohren habe ich anhaltendes, gedämpftes Piepen. Mein Herz hämmert rasend gegen meinen Brustkorb. Die Hauptsache ist, dass die Hände weg sind. Dass mich niemand mehr anfasst. 

Es dauert eine Weile, bis ich mich beruhige. Verschwommen taucht mein Umfeld wieder vor mir auf. Ich spüre die gummiartige Matte unter mir und die Tränen auf meinen Wangen. Beschämt wische ich mir darüber. 

Zoe hockt neben mir, auf der anderen Seite mein Lehrer.

"Isabella? Bist du wieder da? Hörst du mich?", nehme ich gedämpft seine Stimme wahr.

Ich nicke. Dann setze ich mich auf. Die Situation ist mir mehr als nur unangenehm.

"Es tut mir wahnsinnig Leid. Ich hab nicht damit gerechnet... Ich hätte vorher fragen sollen.", sagt mehr Lehrer. Ihm scheint das genauso unangenehm zu sein wie mir.

Ich schüttele den Kopf. "Nein, alles gut. Sie konnten ja nicht wissen... Ich hätte auch nicht gedacht...", verhaspele ich mich. Ich seufze frustriert.

"Alles gut, Isabella. Du musst dich nicht erklären.", sagt Zoe. Ihre Stimme wirkt beruhigend. Wenigstens eine Person, die vielleicht zumindest ansatzweise versteht, was in mir vorgeht. 

"Tut dir was weh? Hast du dich verletzt?"

Ich konzentriere mich auf meinen Körper und versuche, mich normal zu bewegen. Dann stehe ich langsam auf. "Tut ein bisschen weh, aber scheint noch ganz zu sein."

"Das ist schonmal gut.", sagt mein Lehrer. "Du musst nicht weitermachen, wenn dir nicht danach ist. Du kannst gerne den Rest der Stunde aussetzen. Wenn du willst, auch nach Hause fahren."

Ich nicke dankbar. "Das wäre glaube ich am Besten." Das macht die Situation zwar auch nicht weniger unangenehm für mich, aber ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, den Unterricht noch zu Ende zu bringen.

"Ich kann dich auch bringen.", sagt Zoe sofort. Ich schüttele den Kopf. "Nein, echt, es geht schon. Aber danke.", sage ich ehrlich. Ich fühle mich völlig durcheinander und noch immer rast mein Herz, aber ein Pflegefall, der überall hin begleitet werden muss, bin ich auch noch nicht.

Als ich durch die Sporthalle zur Umkleidekabine gehe, wird mir erst bewusst, wie still es geworden ist. Niemand hat seine Übung normal fortgesetzt. Stattdessen stehen alle betreten herum. Na super. Schnell setze ich meinen Weg fort und versuche, möglichst niemanden anzuschauen. Hauptsache schnell weg hier. Schnell nach Hause und schnell in mein Bett.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt