fünf

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"Und Noah, was sagst du?", fragt Louis mit einem dreckigen Unterton in seiner Stimme. Noah schaut erst mich, und dann Louis grinsend an.

"Na ja, ein bisschen unterentwickelt würde ich sagen. Aber gerade das macht es ja so geil."

Mit aller Kraft versuche ich erneut, mich wegzudrücken, doch das führt nur dazu, dass sein Griff sich verfestigt. Eine Hand krallt sich schmerzhaft in meine Haare und drückt mich zurück an das kalte Schließfach.

"Lasst mich!", bringe ich hervor, doch meine Stimme ist viel zu leise. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht um Hilfe rufen, dafür reicht meine Kraft nicht mehr aus. "Lasst mich gehen, bitte."

"Bitte. Wie süß.", sagt Matt abwertend. "Aber nein, das tun wir nicht."

Ich schließe die Augen. Ich kann es nicht mehr über mich bringen, weiter in diese vier abscheulichen Gesichter zu schauen. Mein Körper fühlt sich zittrig und schwach an, doch ich weiß, dass ich nicht aufhören darf, mich zu wehren. Denn selbst wenn ich keinen Erfolg dabei haben werde, werde ich ganz sicher nicht so schnell aufgeben.

Ohne weiter drüber nachzudenken, trete ich mit dem Knie ungebremst zwischen Noahs Beine. Ich habe Erfolg. Noah keucht, stöhnt vor Schmerz auf und weicht mit einem Ruck von mir zurück. Ich nutze die Gelegenheit und laufe los. Die erste Sekunde habe ich Glück, denn die drei anderen sind offenbar zu überrumpelt, um mich irgendwie aufzuhalten. Doch im nächsten Moment höre ich Schritte und keine Sekunde später krallt sich Matts Hand erst um meinen Arm, dann schlingt sich ein Arm von hinten um meinen Hals.

Ich schnappe nach Luft und hole mit den Ellbogen aus, um Matt in den Bauch zu schlagen, doch der scheint darauf vorbereitet zu sein. Josh baut sich vor mir auf, während Louis anscheinend immer noch bei Noah ist.

"Das hättest du nicht tun sollen.", knurrt er. Ich weiß, dass er Recht hat - das war keine besonders gute Idee von mir. Ich versuche ein Nicken, doch mit Matts Griff um meinen Hals ist das unmöglich. Ich bekomme kaum noch Luft, mein Hals tut weh und mein Kopf beginnt zu kribbeln. Ich kralle meine Hände in Matts Arm und versuche, ihn zu lösen, doch ich habe keine Kraft mehr. Ich höre nur noch dumpf, was Josh zu mir sagt. Mein Sichtfeld wird immer kleiner.

Mein Körper wird schwer, doch ich spüre, wie Matt seinen anderen Arm um meinen Bauch schlingt und mich hochzieht, sodass ich gezwungen bin, aufrecht zu stehen. Mit jeder Sekunde, die vergeht, geht mir mehr und mehr die Luft aus. Ich spüre kaum noch, was mit mir passiert, was um mich herum passiert.

Das nächste, was ich wieder wahrnehme, ist ein Ruf, und dann löst sich Matt ruckartig von mir. Ich spüre, wie mein Körper zusammensackt, doch Schmerzen spüre ich nicht.

"Verpisst euch, verdammt!", brüllt jemand, dessen Stimme mir bekannt vorkommt. Und tatsächlich scheint dieser jemand Eindruck auf die vier zu machen, denn ich höre, wie sie zurückweichen. Einige Sekunden später nehme ich einen dumpfen Schlag wahr und eine weitere Stimme: "Ihr sollt verschwinden!"

Ich spüre eine Hand an meinem Gesicht und zucke unwillkürlich zusammen. 

"Alles gut, ich bin es nur.", höre ich wieder diese Stimme. Jetzt kann ich sie auch zuordnen: Luke. Es ist Luke. "Es ist alles gut, sie sind weg."

Es dauert einen Moment, bis seine Worte in meinem Kopf angekommen sind, doch dann wage ich es, die Augen zu öffnen. Verschwommen sehe ich Luke und weitere Gestalten im Hintergrund. Dann schließe ich die Augen wieder.

"Verdammt, sie ist ganz blau.", höre ich jemanden sagen. Mein Kopf ist erfüllt von einem dichten, undurchlässigen Kribbeln. Erst, als mein Körper auf den Rücken gedreht wird, fällt mir auf, dass ich zuvor merkwürdig krumm auf der Seite lag.

Erneut spüre ich Lukes Hand an meinem Gesicht, sie fühlt sich warm an. "Isabella, hey! Augen auf, schau zu mir!"

Mühsam öffne ich die Augen und warte darauf, dass meine Sicht weniger schemenhaft wird. Langsam spüre ich, wie das Blut in meinen Kopf zurück kehrt. Jetzt erkenne ich, dass neben Luke drei weitere Jungs stehen, die alle etwas überfordert und gleichzeitig besorgt aussehen.

Ich richte langsam meinen Oberkörper auf. Die Stellen, die vorhin berührt wurden, tun weh. Beim Gedanken an gerade wird mir übel. Ich spüre Tränen in meinen Augen brennen.

"Hey, alles gut.", sagt Luke leise und besänftigend. Beide seiner Hände liegen an meinem Gesicht. "Es ist alles gut, sie sind weg."

Ich nicke langsam, um seine Worte zu verinnerlichen. Es ist alles gut, sie sind weg. Es ist nichts passiert. Trotzdem entweicht mir ein leises Schluchzen und ich kann nicht verhindern, dass eine Träne meine Wange herunter rinnt. "Verdammt...", bringe ich hervor und wische mir über die Augen.

"Kannst du aufstehen?", fragt Luke. Ich nicke und erhebe mich mit zittrigen Knien. Luke stützt mich am Rücken.

"Danke für....", setze ich an, doch er winkt sofort ab. "Dafür muss sich keiner bedanken. Du hast Glück gehabt, dass Samuel seine Sportsachen noch holen musste, sonst hätten wir gar nichts mitbekommen."

Ich nicke erleichtert. ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn sie mich hier nicht gefunden hätten. "Geht es dir gut? Tut dir was weh?", erkundigt sich jemand, der neben Luke steht.

Ich zucke mit den Schultern. "Ja... Es geht schon." Das , was sich gerade am Schlimmsten anfühlt, ist mein Inneres. Der Schock, das Gefühl der Machtlosigkeit und die Bloßstellung von vorhin. Die Angst.

"Was wollten die von dir?", fragt jemand anderes.

Ich erwidere nichts. Ich schäme mich einfach nur. Ich kann nicht aussprechen, was die mit mir vorhatten. Hätten sie Geld gewollt oder irgendetwas anderes, hätte ich ihnen das geben können. Doch auf das, worauf sie hinauswollten, hätte ich mich niemals eingelassen, und wahrscheinlich hat gerade das sie nur noch mehr gereizt.

"Das was sie immer wollen.", antwortet Luke für mich. Scheint so, als wäre es bei denen keine Neuigkeit.

Ich presse die Lippen zusammen und atme noch ein paar Mal tief durch. Dann setze ich ein Lächeln auf und hoffe, dass es nicht allzu gestellt aussieht. "Keine schönen Umstände, unter denen wir uns kennenlernen. Ich bin Isabella, Lukes Stiefschwester."

"Simon. Wir kennen uns ja schon.", stellt sich der Typ vor, den ich gestern bereits mit Luke in der Stadt gesehen habe. Stimmt, ich erkenne ihn jetzt erst wieder. Die anderen beiden stellen sich als Miles und Jordan vor.

"Ich kann dich nach Hause bringen.", sagt Luke, doch ich schüttele sofort den Kopf, der sich mit einem dumpfen Schmerz dagegen wehrt. "Nicht nötig. Mir geht es gut.", sage ich und ziehe meine Mundwinkel hoch. Doch Luke schaut mich nur kritisch an.

"Bist du sicher, denn...", setzt er an, doch ich unterbreche ihn. "Ja, bin ich. Es ist schon in Ordnung, ich komme klar."

Luke zuckt nur mit den Schultern. Begeistert sieht er nicht aus, doch letzten Endes ist es meine Entscheidung.

Die einzige Möglichkeit, die Situation von gerade aus meinem Kopf zu entfernen, ist sie zur Seite zu schieben und weiterzumachen. So etwas wird nicht noch einmal vorkommen, denn jetzt wissen sie, dass Luke mein Bruder ist. Sie werden sich ohnehin nicht trauen, mir hier in der Schule noch einmal zu nah zu kommen. Ich muss das einfach nur vergessen, dann ist alles gut. Außerdem kann ich unmöglich an meinem ersten Schultag vorzeitig nach Hause gehen.

"Ich habe jetzt gleich Kunst. Vielleicht könnt ihr mir zeigen, wo der Kunstraum ist.", sage ich fröhlich. Luke und seine Freunde sehen zwar nicht überzeugt aus, aber wagen es auch nicht, mir zu widersprechen.

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Der Rest des Tages verläuft ohne weitere Vorfälle. Ich höre von keinem der Jungs noch ein Wort und schaffe es sogar, sie mehr oder weniger zu ignorieren. Stattdessen mache ich mein Ding, funktioniere, arbeite und schiebe die Gedanken erfolgreich beiseite.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt