Nach der Schule bin ich zunächst wieder alleine zu Hause. Mum und James sind bei der Arbeit, Luke beim Basketballtraining. Ich bin allerdings ganz froh - heute Nachmittag werde ich wieder zur Psychotherapie gehen und ich will da erst einmal nicht unbedingt drüber reden. Ich weiß, dass es mir heute helfen wird, aber ich habe auch Angst davor, mich jetzt wieder damit auseinanderzusetzen. In der letzten Woche habe ich die ganzen Erlebnisse mehr oder weniger erfolgreich verdrängt. Klar kamen die Erinnerungen hin und wieder dann doch hoch, aber jetzt gleich bin ich zwangsläufig gezwungen, daran zu denken.
Ich gehe wieder zu Fuß - das hilft mir irgendwie, den Kopf ein bisschen frei zu bekommen.
Jenny begrüßt mich genauso freundlich wie in der letzten Woche. Ich bin immer noch aufgeregt, aber es ist nicht mehr so schlimm wie beim ersten Termin. Wenigstens etwas entspannter kann ich in dem gemütlichen Sessel Platz nehmen.
"Erzähl mal - wie ist es dir so ergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?", fragt Jenny, nachdem sie gegenüber von mir Platz genommen hat.
Ich denke kurz nach. "Insgesamt ganz gut, würde ich sagen. Ich habe schon besser geschafft, alles zu verdrängen. Habe schon viel weniger geweint und weniger Angst gehabt."
Jenny nickt. "Das ist erst einmal gut. Aber Verdrängen ist nicht immer die beste Taktik, um langfristig damit fertig zu werden. Wobei es am Anfang natürlich trotzdem hilfreich ist."
"Ja... ich weiß.", gebe ich zu. "Ich mache das automatisch."
"Das ist auch ganz normal. Eine normale Schutzreaktion der Psyche. Das Problem ist nur, dass meistens dann irgendwann schlagartig alles auf einmal hochkommt und ausbricht, wenn man nicht wirklich damit rechnet."
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue aus dem Fenster. Langsam nicke ich. "Ja. Das klingt logisch. Aber irgendwie muss ich ja meinen Alltag überstehen."
"Wie gesagt, das ist total normal und nichts, worüber du dir generell Sorgen machen musst. Mit dir stimmt alles. Aber trotzdem wird es hilfreich sein, wenn wir hier darüber sprechen und auch andere Lösungen finden, wie du im Alltag damit umgehen kannst."
Ich atme durch. "Ja. Klingt gut."
"Gibt es irgendetwas in dem Zusammenhang, was dir besonders im Kopf umherschwirrt?", fragt Jenny.
"Hm, keine Ahnung... In der Schule ist es manchmal schwer. Klar, ich bin froh, dass sie nicht mehr da sind. Aber ich verbinde ganz schön viele Erinnerungen damit. Manche Lehrer behandeln mich anders seitdem, was es auch nicht besser macht. In manchen Kursen, in denen sie mit mir waren, bekomme ich Angst. Oder wenn ich an den Schließfächern bin, wo an meinem ersten Tag was passiert ist. Dann will ich einfach nur weg."
Jenny nickt. "Ja. Wenn das Gehirn plötzlich Erinnerungen hervorbringt, die man eigentlich loslassen will, kann das Angst hervorrufen."
"Da funktioniert mein Verdrängen dann nicht mehr so gut.", sage ich. "Und ich hoffe einfach, dass es langfristig nachlässt."
"Das wird es sicherlich auch. Das Ziel ist es aber jetzt erst einmal, solche Situationen im Alltag erträglicher zu machen."
Im Verlauf der Therapiestunden erarbeiten wir Methoden, wie ich das schaffen soll. Ich weiß nicht, ob das im Alltag wirklich so einfach funktionieren wird, wie es jetzt dargestellt wird. Aber einen Versuch ist es wert.
"Wie läuft es denn mit dem Thema Nähe zulassen?", erkundigt sich Jenny schließlich noch.
Ich verkneife mir ein erneutes verknalltes Grinsen. Die Details muss sie jetzt nicht unbedingt erfahren. "Äh, gut, würde ich sagen. Sich zu überwinden hat geholfen."
Jenny fragt zum Glück nicht weiter nach. Ich belasse es dabei, ich muss ihr jetzt auch echt nicht alles erzählen.
Auf dem Rückweg lasse ich meine Gedanken wieder schweifen. Die Therapiesitzung war nicht so hart wie in der letzten Woche. Ich fühle mich ein bisschen leichter als vorher - auch wenn es irgendwie immer aufwühlend ist, über alles zu reden. Trotzdem weiß ich, dass es langfristig besser ist, mich einmal pro Woche damit auseinanderzusetzen.
Zu Hause hoffe ich ein bisschen, niemandem zu begegnen und erst einmal allein sein zu können, aber ich rieche schon das Abendessen, als ich den Hausflur betrete. Es riecht gut - aber so richtig nach der Gesellschaft meiner Familie ist mir gerade trotzdem nicht. Aber ich werde wohl nicht darum herum kommen - vor allem, da im selben Moment Luke die Treppe herunter in den Flur kommt.
"Hi.", sagt er und lächelt sanft. Ich kann nicht anders, als zurück zu lächeln. Er ist frisch geduscht, riecht gut und ein paar nasse Haarsträhnen fallen ihm ins Gesicht. Im Vorbeigehen legt er seine Hand für einen kurzen Moment an meinen Rücken und bewirkt damit wieder einen warmen Schauer, der durch meinen Körper fährt.
Ich gehe hinter Luke her ins Esszimmer, wo James gerade einen dampfenden Topf auf den Tisch stellt, während Mum schon sitzt.
"Hallo, Kinder.", trällert Mum. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. "Kinder? Wir sind schon etwas älter, weißt du?", merke ich an und nehme ihr gegenüber Platz.
Mum zuckt mit den Schultern. "In meinem Kopf wirst du immer ein Kind bleiben, egal wie alt."
Luke grinst amüsiert. "Was gibt es denn zu essen?", fragt er dann.
"Ich habe heute mal gekocht.", sagt James dann und klingt fast ein bisschen stolz. Ich frage mich, ob er genau wie meine Mutter vorher auch eher die Tiefkühlpizza aufgewärmt hat, anstatt frisch zu kochen. Vielleicht haben die Beiden ja auch einen positiven Einfluss aufeinander. "Es gibt vegane Linsenbolognese."
Das Essen ist ziemlich gut, muss ich zugeben. James kann offenbar erstaunlich gut kochen.
"Wie war denn heute die Therapie, Schätzchen?", fragt Mum mich dann. Ich stiere konzentriert in mein Essen, bevor ich antworte. Wow, danke Mutter. Unangenehmer, als vor der ganzen Familie nach meiner Psychotherapie zu fragen, geht es ja wohl nicht. Ich spüre die Blicke von allen Anwesenden auf mir. Na super. James und Luke wussten zwar, dass ich dahin gehe, aber ich muss das ja jetzt wohl nicht vor allen hier teilen.
Ich erspare mir trotzdem eine schnippische Antwort. "Ja, ganz gut.", sage ich nur kurz angebunden. Gott sei Dank wird Mum wohl deutlich, dass wir das Thema jetzt hier nicht weiter vertiefen müssen und sie hakt nicht noch einmal nach.
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let me be your baby
RomantizmSeit Isabella denken kann, sucht ihre Mum sich neue Männer. In der Regel bleiben die nicht lang und sind nach spätestens einem Jahr wieder weg - doch diesmal scheint es etwas Ernstes zu sein. Isabella muss wohl oder übel mit ihrer Mum zum neuen Lieb...