Es fällt mir nicht leicht, das zu glauben, dass ich wirklich nichts hätte ändern können. In meinem Kopf schwirren immer noch tausend andere Möglichkeiten, wie ich alles in eine andere Richtung hätte wenden können und wie es nicht so weit gekommen wäre. Doch ich belasse es zunächst dabei.
"Das schlimmste war eigentlich, so hilflos zu sein. Es ging echt gar nichts mehr. Ich wollte mich wehren, aber ich konnte nicht. Ich konnte noch nicht einmal sprechen.", sage ich. Noch nie in meinem Leben gab es eine vergleichbare Situation. In der mein Kopf einfach wie leer gefegt und mein Körper wie der eine Marionette war.
Jenny nickt. "Ja. Ja, das glaube ich. Und trotzdem - es war in dem Moment schlimm. Aber so bist du nicht. Normalerweise kannst du dich wehren und es wäre nie so weit gekommen. Ohne die K.O.-Tropfen wärst du nicht mit ihm mitgegangen."
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. "Und was bringt mir das jetzt? Es ist beunruhigend zu wissen, dass mir jederzeit jemand was in den Drink tun kann und ich dann in so einem Zustand bin."
"Ja. Aber dass es noch einmal passiert, ist extrem unwahrscheinlich. Den Allerwenigsten passiert das überhaupt jemals. Und gerade du wirst wohl in Zukunft noch mehr auf dein Getränk achten. Und dann wirst du dich immer wehren können."
Ich zucke mit den Schultern. "Wie kann ich mir da sicher sein? An dem Tag hätte ich auch niemals damit gerechnet, dass jemand mir was in den Cocktail getan hat. Ich weiß immer noch nicht, wie das passiert ist." Immer und immer wieder bin ich diesen Abend in meinem Kopf durch gegangen, und immer noch ist es mir schleierhaft, was da zu welchem Zeitpunkt schief gelaufen ist.
"Sicher kann man sich nie ganz sein.", sagt Jenny. "Ich kann mir auch nicht sicher sein, dass mir das nicht auch irgendwann mal passiert. Genauso wenig kann ich mir sicher sein, dass ich heute auf dem Rückweg nicht einen Unfall habe. Verstehst du, was ich meine?"
Ich nicke langsam. "Ja. Schon.", sage ich. Eine Weile schweigen wir uns an. Dann beschließe ich, dass ich mit ihr vermutlich wirklich über alles reden kann. Nichts davon wird jemand außer ihr erfahren. "Es gibt einen Jungen...", sage ich und räuspere mich unschlüssig. "Und wir waren uns sehr nah. Ich mag ihn wirklich, wirklich sehr. Aber seit das passiert ist..." Ich schließe die Augen. "Kann ich ihm nicht mehr nahe sein. Nicht einmal umarmen. Direkt muss ich daran denken. Das tut so weh, irgendwie."
"Ja. Natürlich.", sagt Jenny leise. "Das ist eine ganz natürliche Reaktion. Aber auch das wird sich irgendwann ändern."
"Aber wie?", frage ich.
"Manchmal hilft es, sich dem auszusetzen.", sagt Jenny. "Es wird nicht leicht sein. Wenn es zu schlimm ist, musst du das nicht tun, sondern kannst dem noch mehr Zeit geben. Aber vielleicht traust du dich einfach mal eine Umarmung. Und schaust, ob die Angst weniger wird und es sich vielleicht sogar gut anfühlt."
***
Nach der Stunde bei Jenny habe ich tausend Gefühle. Ich schreibe Mum eine Nachricht, dass es etwas später wird, und nehme einen Umweg nach Hause. Das erste Mal, dass ich wieder alleine draußen bin. Frische Luft tut gut. Durchatmen tut gut.
Einerseits tat es wirklich gut, darüber zu reden. Ich habe Dinge ausgesprochen, die ich niemals Mum, Zoe oder Luke gegenüber hätte sagen können. Doch jetzt konnte ich mir sicher sein, dass es in diesem Raum bleiben wird. Und es fühlte sich befreiend an, das alles mal loszuwerden und mich beruhigen zu lassen. Gleichzeitig war es furchtbar herausfordernd und anstrengend. In mir herrscht ein Gefühlschaos.
Ich hole mir als Abendessen eine Falafeltasche in der Stadt und setze mich auf eine Parkbank. Ich schaue nicht auf mein Handy, sondern nur auf die Wiese, wo Kinder und Hunde spielen. Es sieht so unbeschwert aus, als wäre all diesen Leuten noch nie etwas Schlimmes passiert. Wahrscheinlich ist ihnen das auch nicht.
"Isabella.", werde ich plötzlich von einer Stimme aus meinen Gedanken gerissen. Ich blicke auf - Simon. Ich muss unwillkürlich lächeln.
"Hey!", sage ich erstaunt. Ich habe irgendwie nicht damit gerechnet, hier jemanden zu treffen.
"Darf ich mich setzen?" Er deutet auf die Bank. Ich nicke sofort und mache etwas Platz. "Klar."
"Wir haben uns ewig nicht gesehen.", sagt er.
"Da hast du Recht.", antworte ich. Seit der Partynacht bin ich ihm nicht mehr begegnet. Von meinen Freunden habe ich seitdem nur Zoe gesehen, die regelmäßig vorbeikam. "Aber schön, dich mal wieder zu sehen."
"Wie geht es dir?", fragt er zögerlich, versucht, mir nicht zu nahe zu treten.
Ich zucke mit den Schultern und zögere die Antwort hinaus, indem ich mir ausgiebig die Mundwinkel mit der Serviette abwische und das Papier dann in den Mülleimer neben der Bank werfe. "Naja... Ganz gut, denke ich. Den Umständen entsprechend. Aber schon besser." Es ist gar nicht leicht, eine passende Antwort auf eine so einfache Frage zu stellen. Aber wie soll ich ihm das Gefühlschaos, das in meinem Kopf herrscht, sonst darlegen?
Simon sieht mich von der Seite an, doch ich kann nicht zurück schauen. "Das war echt schlimm, diese Nacht. Ich wünschte, ich hätte das irgendwie verhindern können."
Ich nicke. "Ja. Das wünsche ich mir auch. Es war..." Ich bringe den Satz nicht zu Ende. Mir fällt auch kein anderes Wort als "schlimm" ein.
"Hey." Simon legt eine Hand auf meine Schulter und streichelt mich kurz. Ein kurzer Schreck, dann wird es wieder besser. "Wir können das nicht rückgängig machen. Aber nach vorne schauen."
Jetzt wende ich ihm meinen Blick zu. "Ja, das versuche ich. Vermutlich werden die Jungs erst einmal suspendiert und dann verwiesen. Wir waren heute beim Schulleiter."
Er lächelt. "Ja, hat Luke schon erzählt. Das ist doch mal eine gute Nachricht."
Ich nicke. "Auf jeden Fall. Ich hoffe, dass das jetzt alles klappt. Dann werde ich wahrscheinlich in den nächsten Tagen auch wieder zur Schule gehen."
"Freut mich wirklich.", sagt Simon. "Das muss echt herausfordernd für dich sein."
"Ist es auch.", bestätige ich. "Aber es muss ja weitergehen. Ich hab mich ganz schön gehen lassen in den letzten zwei Wochen." Ich grinse schief. Tagein, tagaus lag ich im Bett. Es ging nicht anders, das weiß ich. Aber heute war ein guter Tag, auch wenn er schwer war. Irgendwie muss ich wieder zurück in die Normalität.
"Ist ja auch verständlich.", sagt Simon und lächelt. Wir schweigen einen Moment. "Du bist Luke ganz schön wichtig.", sagt er dann nach kurzem Überlegen.
Mein Herz stolpert kurz und ich merke, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. "Wirklich?"
Simon nickt. "Ja. Ich weiß ja nicht, was genau da mit euch ist... So viel hat Luke mir nicht erzählt. Aber mehr, als nur Stiefgeschwister, oder?"
Ich zögere kurz. "Ja.", sage ich dann. Ich weiß, dass ich Simon vertrauen kann. "Er ist mir auch echt wichtig."
Simon lächelt breit und streichelt kurz mit dem Daumen über meine Schulter. "Ich freu mich echt. Auch für Luke. War nicht immer leicht für ihn in den letzten Jahren."
Ich nicke. "Ja... Ich weiß. Ich hoffe nur, dass ich... ihm vertrauen kann, weißt du?"
Simon nickt. "Glaub mir, er hat sich in den letzten Jahren nicht immer korrekt verhalten Mädchen gegenüber... Aber so, wie er mit dir umgeht, bist du etwas ganz anderes. Wie gesagt, du bist ihm echt sehr wichtig. Und wenn das der Fall ist, ist Luke der ehrlichste Mensch, den es gibt."
"Er ist manchmal sehr verschlossen.", sage ich.
"Ja, so ist er.", antwortet Simon. "Er braucht seine Zeit, das war schon immer so. Selbst bei mir als sein bester Freund dauert es ewig, bis er mir Sachen erzählt."
Beruhigt lächele ich leicht. "Danke Simon. Ich werde jetzt mal nach Hause gehen. Es tat echt gut, dich mal wieder zu sehen."
"Ebenfalls.", sagt er grinsend und steht auf. Er macht kurz Anstalten, mich zu umarmen, lässt es dann aber, als er meinen Blick sieht. Stattdessen hebt er nur die Hand. "Ich freue mich, wenn wir uns die Tage wieder sehen."
DU LIEST GERADE
let me be your baby
Lãng mạnSeit Isabella denken kann, sucht ihre Mum sich neue Männer. In der Regel bleiben die nicht lang und sind nach spätestens einem Jahr wieder weg - doch diesmal scheint es etwas Ernstes zu sein. Isabella muss wohl oder übel mit ihrer Mum zum neuen Lieb...