einundvierzig

2.8K 68 1
                                    

Am nächsten Morgen versuche ich, einfach nicht zu lange darüber nachzudenken. Ich dusche mich, gebe mir Mühe, als ich mich fertig mache, um einigermaßen frisch auszusehen. Dann trinke ich meinen Kaffee und esse ein Brötchen. Ich gehe heute in die Schule. Und es wird nichts passieren., sage ich mir immer wieder. Ich weiß selbst nicht, woher diese irrationale Angst kommt. Es gibt keinen Grund, ängstlich zu sein. Sie sind weg.

Trotzdem ist mir mulmig zumute, als ich plötzlich wieder vor dem Gebäude stehe. Plötzlich jedoch schließen sich von hinten Arme um mich und ein Kopf legt sich auf meine Schulter. "Isabella!"

Ich fahre herum. "Zoe!", sage ich erleichtert und falle ihr um den Hals. Hinter ihr stehen Simon, Miles und Jordan. Ich hebe die Hand. Die Umarmung spare ich mir vorerst und hoffe, dass das nicht doof rüber kommt.

"Schön, dich wieder zu sehen, Isabella.", sagt Jordan ehrlich. Ich lächele. "Ja, ich finde es auch schön. Wie geht es euch?"

"Gut soweit.", sagt Miles. "Wobei uns das glaube ich alle ziemlich belastet hat.", fügt er dann noch hinzu.

Ich nicke nur. Ich möchte am Liebsten nicht drüber reden und nicht dran denken. Ich will mich hier normal fühlen, soweit das möglich ist. 

"Lass uns schonmal rein gehen.", sagt Zoe, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Dankbar nicke ich. Gott sei Dank haben wir die erste Stunde zusammen. Im Klassenzimmer spüre ich ein paar Blicke auf mir. Beinahe habe ich nicht damit gerechnet, dass man meine Abwesenheit überhaupt bemerkt - doch offenbar habe ich mich getäuscht. Ich bin nur froh, dass mich niemand anspricht.

Als unsere Lehrerin jedoch schließlich die Aufgabenblätter verteilt, bleibt sie kurz vor mir stehen. "Schön, dass du wieder da bist, Isabella.", sagt sie und lächelt.

Ich nicke. "Ja, ich bin auch froh."

"Wie geht es dir denn?", fragt sie leise. "Ich habe gehört, dass du... im Krankenhaus warst." An ihrer Stimmlage lässt sich erkennen, dass sie wahrscheinlich auch noch andere Sachen gehört hast.

Ich schaue konzentriert das Arbeitsblatt an. "Mir geht es ganz gut soweit, danke.", sage ich monoton.

Sie bleibt noch kurz vor mir stehen. "Melde dich einfach, wenn du Hilfe brauchst oder bei dem Unterrichtsstoff nicht mehr mitkommst." Dann läuft sie weiter.

"Meinst du, sie weiß was?", frage ich Zoe flüsternd.

Zoe hebt die Schultern. "Naja... Bis vor kurzem wahrscheinlich nicht. Aber sie wird schon wissen, warum die Jungs suspendiert worden sind. Und entweder kennt sie den genauen Grund..."

"Oder sie hat eins und eins zusammen gezählt.", beende ich ihren Satz. Zoe nickt etwas mitleidig. Mein missmutiger Blick spricht wohl Bände. Ich bin wirklich nicht begeistert davon, dass jetzt alle Lehrer auch noch Bescheid wissen. Ich weiß, dass ich das nicht sollte, aber ich schäme mich. Ich verzichte gerne auf jegliches Mitleid und Entgegenkommen von ihnen. Ich wünschte nur, sie würden weiterhin denken, dass ich einfach nur eine schwere Grippe hatte und jetzt wieder topfit bin.

"Und die Schüler? Wissen die irgendwas?", flüstere ich.

"Keine Ahnung...", sagt Zoe. "Ich glaube nichts genaues, ich habe jedenfalls nichts erzählt. Aber an dem Abend haben manche schon gemerkt, dass was nicht stimmte. Und dass Luke dich nach Hause getragen hat. Danach hast du dann zwei Wochen gefehlt. Also werden einige vielleicht ahnen, dass irgendwas passiert sein könnte."

Ich nicke langsam. "Okay." Das ist wirklich okay. Solange sie zumindest nichts Eindeutiges, Genaues wissen, soll das in Ordnung für mich sein. Hauptsache, ich werde jetzt nicht auch noch von meinen Mitschülern in die Opferrolle gesteckt - wenn es schon die Lehrer tun.

***

Ich bin froh, dass ich halbwegs mitkomme im Unterricht. Ich hätte damit gerechnet, dass es schwerer wird. Klar werde ich noch eine Menge nacharbeiten müssen, aber es wird machbar sein. Und wieder ein bisschen meinen Kopf anzustrengen, ist auch ein ganz gutes Gefühl.

Mir graut es schon den ganzen Tag vor Literatur - dem Fach, das ich normalerweise mit Louis und Josh hatte und in dem alles angefangen hat. Doch es ist okay. Ich sitze jetzt alleine auf meinem Platz, ohne jemanden neben mir, und es fühlt sich erleichternd an. Auch wenn ich die Erinnerungen habe -  sie sind jetzt nicht hier, und das ist das, was zählt.

Mr. March behandelt mich bis zum Ende der Stunde ganz normal. Als es jedoch läutet, kommt er zu meinem Platz und stellt sich vor meinen Tisch. Ich packe konzentriert meine Sachen zusammen und blicke dann fragend auf. 

"Ich möchte gern kurz noch mit dir reden, Isabella.", sagt er ruhig.

Ich schaue mich im Raum um. Außer mir sind noch ein paar wenige Schüler da, die sich neugierig umdrehen, aber den Raum verlassen. Na toll, gerne noch ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, vielen Dank. Schließlich ist der Raum leer und Mr. March nimmt vor mir auf einem Stuhl Platz.

"Mir wurde berichtet, was passiert ist.", sagt er und setzt eine mitleidige Miene auf.

"Wurde das allen Lehrern gesagt?", frage ich.

Er nickt. "Ja. So ist das bei einer Suspendierung, da werden die Lehrer zwangsläufig darüber aufgeklärt."

Na toll. Genau das, was ich befürchtet habe. Ich seufze. "Okay."

"Ich wollte nur sagen, dass es mir wirklich Leid tut.", sagt er.

Ich nicke und betrachte interessiert meine Hände. Bloß nicht in sein mitleidiges Gesicht schauen. "Ist schon in Ordnung."

"Hätte ich das eher gewusst... Du saßt ja immer neben Louis. Ich hätte das ändern sollen, aber ich habe nichts gemerkt."

Meine Hände werden schwitzig und ich kralle meine zitternden Finger ineinander. "Ist schon okay, wirklich." Mein Puls beschleunigt sich. Verdammt. Keine Panik, Isabella, keine Panik. Sie sind nicht hier, sie sind nicht hier.

"Nein...", sagt Mr. March. Seine Stimme klingt dumpf. In meinen Ohren klingelt es schrill. In meinem Kopf sitzt Louis wieder neben mir, schaut mich ekelhaft an und ist mir viel zu nahe. "Es tut mir wirklich Leid, dass es mit solchen Erfahrungen für dich beginnen musste. Vielleicht kann das jetzt eine Art Neuanfang werden, auch wenn man so etwas natürlich nicht so einfach vergessen kann."

Ich springe auf. "Mr. March, es ist echt okay. Vielen Dank.", sage ich eindringlich. Meine Knie zittern.

"Wenn du Hilfe bei irgendetwas brauchst, sag Bescheid.", sagt er noch. Ich bin mir sicher, dass er das alles nur gut meint und keine Ahnung hat, was seine Worte gerade in meinem Kopf auslösen. Von daher kann ich ihm nicht böse sein. Trotzdem hört mein Herz nicht auf zu rasen und mein Kopf nicht auf zu rauschen.

Fluchtartig verlasse ich das Gebäude und gehe auf den Schulhof, wo ich mich auf die Suche nach meinen Freunden machen. Erleichtert stelle ich fest, dass sie wie immer in ihrer Stammecke sind.

Zoe grinst mich fröhlich an, als ich dazu komme, zieht dann allerdings fragend eine Augenbraue hoch. Luke runzelt die Stirn. "Was ist los?"

"Nichts." Meine Stimme klingt unnatürlich hoch. "Was soll denn sein?"

Luke legt eine Hand an meinen Rücken und wendet sich mir zu. "Naja, du bist ganz schön blass. Und ein bisschen schwitzig, ehrlich gesagt."

Ich muss schmunzeln. "Sorry. Mr. March... wusste nicht ganz, was er sagt, glaube ich."

Luke nickt nachdenklich. "Literatur?"

"Mhm.", mache ich nur. Ich bin froh, dass er nicht auf eine genauere Erklärung wartet. Ich trinke einen Schluck Wasser. Luke teilt sein Schokobrötchen in der Mitte und drückt mir eine Hälfte in die Hand. "Iss. Dann wird es dir besser gehen.", sagt er gespielt ernst.

Mit diesen Worten bringt er mich endgültig zum Lachen. "Darf ich echt?"

"Klar."

Dankbar nehme ich die Hälfte entgegen und beiße genüsslich ab. Er hat Recht. Es dauert nicht lange und mir geht es tatsächlich besser. Irgendwie schafft dieser Junge es immer, dass ich mich gut fühle.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt