sieben

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"Du willst das vermutlich nicht hören, aber... du solltest zur Schulleitung gehen.", sagt Luke nach einer Weile.

Ich schüttele sofort stur den Kopf. Ich habe mir schon gedacht, dass er mich dazu auffordern wird. "Nein, das werde ich nicht.", sage ich kühl. Meine Stimme klingt unbeabsichtigt hart.

"Isabella...", sagt Luke bittend und schaut mir eindringlich in die Augen. "Ich weiß, dass das schwer ist. Aber es wäre verdammt fahrlässig und unverantwortlich, das nicht zu melden."

Ich wende meinen Blick ab, um ihn nicht weiter ansehen zu müssen. Dann nehme ich meine Hand von ihm und setze mich im Bett auf, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. "Sie werden es nicht wieder tun."

"Und was macht dich da so sicher?", fragt Luke und setzt sich ebenfalls auf. In diesem Moment halte ich die Nähe nicht aus - ich springe auf und stelle mich hin.

"Sie wissen jetzt, dass du auf meiner Seite bist und vor deinen Freunden und dir haben sie offenbar großen  Respekt. Sie werden sich das nicht mehr trauen!" Meine Stimme wird lauter, als würde ich mir selbst einreden wollen, dass es so ist.

Luke schüttelt langsam den Kopf. "Ich weiß nicht... Ja, sie haben Respekt vor uns, aber wenn sie wollen, werden sie trotzdem eine Gelegenheit finden. Es gibt so viele Momente, in denen du alleine bist. Vielleicht hast du beim nächsten Mal nicht das Glück, dass ich gerade in der Nähe bin."

Ich zucke mit den Schultern und erwidere seinen starren Blick mit verschränkten Armen. Mag sein, dass er das so sieht und es mag auch sein, dass er Recht hat - aber ich kann nicht. Ich werde das nicht tun, zumindest noch nicht.

"Isabella..." Luke steht vom Bett auf und kommt mir vorsichtig näher, doch ich weiche einen Schritt zurück. "Ich will doch nur das Beste für dich. Ich mache mir Sorgen."

"Weiß ich doch." Meine Stimme bricht und ich spüre wieder die Tränen in meinen Augen brennen. Mit aller Macht dränge ich sie zurück. "Aber... Ich kann nicht. Ich kann wirklich nicht." Ich senke meinen Blick. Er soll mich nicht schon wieder weinen sehen.

"Wieso denn nicht?", hakt er nach.

"Wieso nicht? Weil die Situation heute echt schlimm war. Deswegen, Luke. Dir ist das nicht passiert, mir ist das passiert, und das an dem ersten Tag an meiner neuen Schule. Du denkst, du verstehst mich, aber du kannst dich da nicht hinein versetzen, nicht wirklich! Wenn ich den Vorfall melde, dann werde ich das alles nie vergessen können!" Meine Stimme wird immer lauter und überschlägt sich am Ende fast. Ich schließe kurz die Augen und hole Luft.

"Aber das Ganze zu verdrängen, kann doch auch nicht die richtige Lösung sein.", sagt er leise. "Du wirst in der Schule immer Angst haben, wenn du nichts unternimmst."

Ich zucke mit den Schultern. "Ja, vielleicht. Aber... Was soll das auch bringen? Ich habe absolut keine Beweise. Im Zweifel steht es Aussage gegen Aussage und dann wird nichts weiter passieren, als dass sie es noch mehr auf mich absehen. Es wird nichts besser machen, wenn ich sie melde."

Luke seufzt leise. "Es ist letzten Endes deine Entscheidung und ich werde dich nicht dazu zwingen. Aber bitte denk noch einmal in Ruhe darüber nach."

Ich nicke, doch ich weiß, dass meine Entscheidung bereits gefallen ist.

***

"Magst du denn nichts essen, Schätzchen?", fragt Mum, als wir abends alle gemeinsam am Tisch sitzen. Mum und James haben offenbar immer noch den Plan, dass wir nun alle eine perfekte Bilderbuchfamilie darstellen. Meine Mutter hat sogar extra gekocht, und zwar so frisch, wie sie es früher niemals gemacht hat.

"Ich... hab nicht so viel Hunger.", sage ich schuldbewusst. "Ich habe in der Schule schon ziemlich viel gegessen." Das ist zwar eine glatte Lüge, doch die Wahrheit kann ich unmöglich erzählen. Ich hoffe bloß, dass Mum nicht denkt, dass ich ihr Essen nicht wertschätze, denn es schmeckt echt gut. Doch der Appetit ist mir heute vergangen.

"Erzähl doch mal, wie war denn dein erster Tag an der neuen Schule, Isabella? Hast du dich wohlgefühlt?", fragt James.

"Mhm, ja." Meine Stimme ist ungefähr eine Oktave zu hoch. "War echt gut. Nette Leute." Ich werfe einen unauffälligen Blick zu Luke, der mich von der anderen Seite des Tisches kritisch anblickt. Ich habe ein bisschen Angst, dass er etwas sagen wird, auch wenn ich ihm vorher deutlich gemacht habe, dass er das bloß nicht wagen soll.

"Also hast du deine Mitschüler schon ein bisschen kennen gelernt?", hakt Mum nach und schaut mich aufmerksam an. Leider hat meine Mum ziemlich gute Fähigkeiten, wenn es darum geht, Menschen zu durchschauen. Doch ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Hastig schiebe ich mir eine Gabel des Essens in den Mund und kaue erst einmal gemächlich darauf rum.

"Ja, mit ein paar Leuten habe ich mich unterhalten. Alle ganz nett.", lüge ich weiter. Die Wahrheit ist, dass ich mich außer mit Louis und seinen Freunden und den drei Freunden von Luke mit niemandem unterhalten habe. Danach war mir die Lust auf neue Bekanntschaften erst einmal vergangen.

"Na, das klingt doch super!", sagt Mum glücklich. Sie scheint mir meine Lügen tatsächlich abzukaufen. Ich nicke nur stumm.

"Und hast du auch schon Freunde gefunden?", fragt James weiter. Na toll, ich dachte, das Gespräch wäre beendet.

"Nicht wi...", setze ich an, doch werde abrupt von Luke unterbrochen.

"Ja, Isabella versteht sich echt gut mit meiner Clique! Stimmt es?" Er sieht mich eindringlich an.

"Äh, ja genau.", sage ich eifrig und erleichtert. Ich hoffe, dass mir das ein weiteres besorgtes Nachfragen von Mum erspart.

Mum und James sehen echt zufrieden aus. "Das freut mich wirklich!", sagt Mum. Ich lächele nur kurz und lege dann mein Besteck beiseite. "Ich bin echt satt. War aber total lecker.", sage ich ehrlich.

Mum sieht mich für einen Augenblick zweifelnd und etwas besorgt an, doch dann nickt sie. "In Ordnung." 

Ich spüre Lukes Blick auf mir ruhen und sehe auf. Seine Augenbrauen sind leicht zusammengezogen und bilden eine kleine Falte. Ich weiß genau, was er mir damit sagen will, doch ich zucke bloß mit den Schultern. Ja, vielleicht geht es mir heute nicht gut und ich weiß auch, dass ich hier gerade ziemlich viel lüge, was ich auch nicht wirklich mit meinen persönlichen Werten vereinbaren kann. Doch es ist so wie es ist und ich kann Mum und James wohl kaum sagen, wie es wirklich in der Schule war. Was soll ich denn auch sagen? Schule war beschissen, es war schrecklich, die einzigen Leute, die ich kennengelernt habe, haben mich niedergemacht, mich verletzt, mich übergriffig behandelt und mich brutal angefasst. Ich habe verdammte Angst, dass das wieder passieren könnte, doch ich traue mich nicht, die Typen zu melden und ich kann ohnehin nicht besonders viel ausrichten. Freunde habe ich nicht und ich bezweifle auch, dass ich bald welche finden werde. Aber danke der Nachfrage.

Ich schüttele den Kopf. Davon wird Mum hoffentlich nie etwas erfahren. Ich halte es nicht länger am Küchentisch aus und stehe ruckartig auf, auch wenn ich mir verdammt schlecht dabei vorkomme, die scheinbare Familienidylle damit zu zerstören. "Tut mir Leid, aber ich gehe hoch. Ich muss noch ein paar Sachen für die Schule machen und ich bin echt müde."

James nickt, nur Mum sieht ein bisschen enttäuscht aus. Gleichzeitig sieht man ihr auch die Besorgnis an und schließlich nickt sie auch. "Ist gut, ruh dich aus, Schätzchen."

Ich überwinde mich zu einem weiteren Lächeln und gehe hoch in mein Zimmer.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt