dreiundzwanzig

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Nachmittags ziehe ich mir über das knapp geschnittene T-Shirt einen meiner weiten Pullover, auch wenn es viel zu warm dafür ist. Die enge Jeans ersetze ich durch eine schlabberige Jogginghose. In diesem Moment bin ich wieder die Alte. Ich fühle mich wieder genauso unauffällig, langweilig und unattraktiv wie vorher. Doch immerhin fühle ich mich in diesem Outfit nicht so, als wäre ich ein ansprechendes Ziel für Josh, Louis, Noah und Matt. Und das ist mir in diesem Moment definitiv am meisten wert. Die Blicke von Louis und Josh heute in der Schule waren echt alles andere als angenehm, und als Louis mich dann auch noch berührt hat, wäre ich beinahe ausgerastet. In diesem Moment kamen alle Erinnerungen an meinen ersten Schultag wieder hoch.

Ich setze mich wie immer an meine Hausaufgaben. Generell ist es besser, wenn ich mich wieder mehr fokussiere. In den letzten Tagen, vielleicht sogar schon seit ich hier her gezogen bin, habe ich den Fokus verloren. Ich sollte wieder tun, was Gott möchte und was sinnvoll für meine Zukunft ist. Ich sollte keine Reizwäsche tragen und Jungs küssen - schon gar nicht meinen Stiefbruder. Ich sollte meine Zeit nicht auf Partys verschwenden, mich betrinken und dumme Spiele spielen. Ich sollte lernen und in die Kirche gehen und meinen Fokus nicht auf Äußerlichkeiten wie schicke Klamotten legen.

Als Luke nach Hause kommt, habe ich zuerst das Bedürfnis zu ihm zu gehen und wenigstens kurz mit ihm zu sprechen, doch ich verkneife es mich. Ich weiß genau, dass ich ihm ohne Weiteres wieder verfallen würde, wenn er es darauf anlegen würde. Und das wäre nicht gut, gar nicht gut. Ich muss mich jetzt zusammen reißen, bis es leichter wird, mich von im fern zu halten.

Stattdessen mache ich genau das, was ich mir vorgenommen hatte. Ich erledige akribisch meine Hausaufgaben, lerne und abends gehe ich erst in die Messe und dann zum Kirchenchor. Später, als ich dann im Bett liege, fühle ich mich okay. Nicht großartig, aber immerhin okay. Das ist das Leben, das ich auch mein ganzes bisheriges Leben gelebt habe und mit dem ich immer gut zurecht gekommen bin. Das ist das Leben, das Gott für mich vorgesehen hat. Und genau so werde ich auch weiter leben. Ja, es war schön, mal zwei Wochen lang das Leben abseits der Kirche und der Schule kennen zu lernen und auch mal richtig Spaß zu haben. Aber Spaß ist eben kein Lebensinhalt, zumindest nicht für mich.

***

Zoe sieht mich stirnrunzelnd an, als wir uns am nächsten Schultag in der Pause begegnen. Ihr ist sofort aufgefallen, dass ich doch wieder zu meinem alten Kleidungsstil gewechselt bin." Warst du doch nicht mehr so überzeugt von deinen neuen Klamotten?" Sie blickt an mir herunter. "Ich meine, du siehst so oder so gut aus, aber ich fand deinen neuen Stil echt toll, und du doch auch, oder nicht?"

Ich trage heute wieder das Übliche. Eine Jeans, die nicht so eng ist und ein schlabberiges T-Shirt. Gleichgültig zucke ich mit den Schultern und setze mich neben ihr auf die Bank. "Na ja... Ich mochte es, aber ich darf auch mich selbst nicht verlieren. So ist es doch auch okay."

Zoe grinst schief, sieht aber hauptsächlich ziemlich verwirrt aus. "Aber warst das nicht gestern und am Wochenende auch du selbst?"

"Schon...", sage ich und zucke wieder betont beiläufig mit den Schultern. "Aber... Ich muss wieder mehr so werden, wie ich vor dem Umzug war, weißt du?" Ich seufze. "Ich habe mich hier wirklich verändert, und das war auch gar nicht so schlimm für die letzten zwei Wochen. Aber ich habe meine Prioritäten aus den Augen verloren. Jetzt muss mein Leben wieder weiter gehen wie zuvor."

"Was sind denn deine Prioritäten?", hakt Zoe nach.

"Kirche und Schule.", sage ich. Im gleichen Moment merke ich, dass es ziemlich erbärmlich klingt, wenn ich behaupte, dass diese beiden Dinge meine einzigen Lebensinhalte sind. Aber früher war das auch schon immer so, von daher sollte mich das gar nicht so sehr stören.

Zoe seufzt und schaut mich eindringlich an. "Isabella... Ich meine, es ist wirklich sehr lobenswert, dass du solche Prioritäten im Leben hast. Aber meinst du nicht, dass du zusätzlich zu diesen auch noch ein bisschen Spaß haben darfst?"

"Ich kann mich dann nicht auf meine Ziele fokussieren.", widerspreche ich eisern. "Spaß ist gut, aber Zukunft ist wichtiger." Ich klinge wie eine Fünfzigjährige und wahrscheinlich hat selbst meine Mutter eine modernere Denkweise als ich. Zumindest das ist nichts Neues, denn meine eigene Mutter war schon immer viel moderner und weniger prüde als ich. Aber so bin ich eben.

"Glaub mir, alle hier gehen gerne feiern." Zoe macht eine vielsagende Geste mit der Hand und ich lasse meinen Blick über den Schulhof schweifen. Ja, die Leute hier sehen tatsächlich alle aus, als würden sie gerne feiern gehen. "Und trotzdem wird aus den meisten auch was werden. Oder meinst du, ich bin falsch geraten?"

Ich lache. "Nein, bist du natürlich nicht. Alles was ich sagen will ist, dass das eben nicht mein Leben ist. Ich war noch nie so und vermutlich werde ich auch nie so sein. Da werden auch ein paar neue Klamotten und eine Party nichts dran ändern."

"Hm...", macht Zoe. Sie sieht fast ein bisschen enttäuscht aus. "Ich finde es echt gut, dass du so zu dir selbst stehst. Ich dachte nur, dass du das auch willst und dass du endlich mal richtig was... erleben willst."

"Ja, vielleicht...", sage ich nur nachdenklich. Sie hat ja Recht, eigentlich wollte ich das. Ich wollte den Umzug als Chance sehen, endlich mal aus mir heraus kommen und vor allem etwas aus mir machen. Immer war ich die graue Maus und ich dachte, dass ich jetzt endlich mal dieser Rolle entfliehen könnte. Vielleicht könnte ich es sogar. Doch dafür müsste ich die Sicherheit der Unsichtbarkeit aufgeben, und ich glaube, das will ich nicht wirklich.

let me be your babyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt