Kapitel 1

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Das Rascheln der Decke liess mich zum hundertsten Mal erwachen. Mein Blick fiel auf die Uhr. 3:27 stand dort in leuchtend roter Schrift. Ich liess einen Seufzer verlauten. Ians Schlaf war unglaublich unruhig. Wie er schlafen konnte, wenn er sich so oft hin und her drehte, war mir ein Rätsel. Aber die Frage erübrigte sich, als er ganz leise zu sprechen begann.
"Misaki? Bist du noch wach?" Ich drehte mich zu ihm hin.
"Ja?"
"Kannst du auch nicht schlafen?" Ja, wegen dir, dachte ich hundemüde.
"Nicht so richtig", gähnte ich und hielt mir die Hand vor den Mund.
"Darf ich dich etwas fragen?" Die Umrisse meines Freundes konnte ich nur ansatzweise erkennen. Aber aus seiner Stimme hörte ich, dass es etwas ernsteres war.
"Nur zu..."
"Was ist passiert? Ich meine als du weg warst?" Ich schwieg. Es gibt keine Möglichkeit, es ihm zu erklären. Bisher war ich froh, dass die Frage nie aufgekommen war. Aber irgendwann musste er sie ja stellen. Schluckend suchte ich nach einer zufriedenstellenden Antwort.
"Hmm... Es ist schwierig, dir das zu erklären." Mein Gehirn ratterte auf Hochtouren, damit ich mich aus der Situation herausreden konnte, ohne weiteres Misstrauen zu erwecken.
"Früher ist so einiges schief gelaufen. Ich meine, viele Freunde habe ich ja nicht. Aber die Schatten meiner Vergangenheit sind wieder aufgetaucht." Ich verstummte. Was redete ich da für wirres Zeug.
"Bist du in Gefahr? Ist es die Mafia oder so?" Viel schlimmer! Die Phantom Troupe. Die schrecklichsten Verbrecher aller Zeiten. Sie sind Diebe und Mörder, legen sich die Welt zurecht, damit sie ihnen passt. Sind meine Freunde aber gleichzeitig muss ich mich vor ihnen in Acht nehmen. Denn aus einer Laune heraus könnte mich jeder einzelne von ihnen töten, schrien meine Gedanken, aber äusserlich blieb ich ruhig.
"Nein, es sind einfach nur Begebenheiten, die ich gerne vergessen würde", antwortete ich schliesslich.
"Warum bist du dann gegangen, wenn du nicht willst?" Ein lauter Seufzer stahl sich von meinen Lippen.
"Manchmal kann man es sich nicht aussuchen." Phinks und Feitan schlichen sich in meinen Kopf. Das Lachen der beiden, wenn sie wieder einmal etwas ausgeheckt hatten, oder sich gegenseitig neckten. Vor allem den Blonden hatte ich von Anhieb ins Herz geschlossen. Wir hatten uns ein Zimmer geteilt und auch unser Humor schien auf derselben Wellenlänge zu sein. Feitan hingegen taute erst nach und nach auf. Aber dass hinter seiner harten Schale eine noch härtere Schale und dann ein weicher Kern steckte, hatte ich spätestens beim Baden herausgefunden. Wie um alles in der Welt sollte ich sie einfach ihrem Schicksal überlassen. Sie und Shalnark und Shizuku und Pakunoda... Machi nicht. Die hätte von mir aus in irgendeinem Keller verrotten können. Die Art wie sie Hisoka immer mit ihren Blicken auszog, liess mich schon wundern, ob sie mal miteinander im Bett waren. Wenn zwischen uns mehr passiert wäre, dann hätte ich ihn bestimmt danach gefragt. Der Zauberer hätte mir bestimmt die Wahrheit gesagt, ausser er sah einen Sinn darin, mich anzulügen.
"Ich habe alle deine Kontakte angerufen. Aber niemand hat gewusst wo du bist. Die Hälfte hat den Anruf nicht einmal angenommen." Es lief mir kalt den Rücken hinunter bei dem Gedanken daran, dass Ian Mitglieder der Phantom Troupe am Telefon hatte, ohne es zu wissen.
"Ich will doch nur verstehen...", seufzte er. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also kuschelte ich mich an ihn.
"Mach dir keine Sorgen. Es ist vorbei", murmelte ich. Die Müdigkeit holte mich wieder ein. So schloss ich meine schweren Lider wieder und döste langsam weg.
"Wie soll ich mir keine Sorgen machen, wenn du einfach verschwindest und erst nach einer Woche wieder auftauchst", hörte ich noch am Rande. Ich drückte mich näher an ihn und schlief ein.

Am nächsten Morgen gab ich mir Mühe, keine Geräusche von mir zu geben. Ian erwachte trotzdem und bestand darauf, mit mir zu frühstücken. Die dunklen Ringe unter seinen Augen beschrieben nur rudimentär, wie unruhig die Nacht war. Ich versuchte, harmlose Themen aufzubringen, aber mein Freund schien nicht in Erzähllaune zu sein. Also stopfte ich im Stillen die Brötchen in mich hinein. Die Stimmung wurde immer unangenehmer. So war ich extrem froh, als Jin ebenfalls eintrat und ohne Umschweife anfing, mit Ian über ein technisches Gerät zu diskutieren.
"Ich geh dann mal", mumelte ich, sodass ich die beiden nicht unterbrach. Ian hob seinen Blick an. Ich schaffte es nur ganz kurz, ihm in die Augen zu sehen. Als ich aus der Küche gehen wollte, hielt er mich am Handgelenk auf. Ich hatte weder Kraft noch Lust, mich ihm entgegenzustellen. Also liess ich mich mitziehen. Unbeholfen plumste ich auf seinen Schoss. Blaue Augen funkelten mir liebevoll entgegen. Seine Lippen trafen vorsichtig auf meine.
"Ich liebe dich, Misaki. Bitte vergiss das nicht!" Ich lächelte schwach.
"Ich dich auch." Daraufhin liess er mich los und ich trat aus dem Appartement.

Der Aufzug öffnete sich mit einem lauten 'Ping'. Ich stellte mich hinein, drückte die Taste für ins Erdgeschoss. Surrend setzte er sich in Bewegung. Mit Blick in den Spiegel zupfte ich meine Haare zurecht. Ich hatte sie erst gerade wieder schneiden lassen. Es hat zwar ein Vermögen gekostet, aber ich mochte, dass sie mir nur noch bis zum Kinn gingen. Der Lift hielt einen Stock weiter unten. Die blonde Nachbarin war extrem aufgedackelt, die Haare zu einem hohen Dutt gesteckt, passte die flauschige Leopardenjacke zu dem eleganten roten Rock. Ihre Füsse steckten in hohen geschnürten High-Heels. Der Schmuck um ihren Hals klimperte bei jeder Drehung. Während sie laut auf ihrem Kaugummi herum kaute, klemmte sie sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter. Interessiert blickte sie ihre frisch manikürten Fingernägel an.
"Ich bin ja schon auf dem Weeg", meckerte sie in den Hörer. Ihre blauen Augen musterten mich kurz. Die Stimme am anderen Ende konnte ich nicht verstehen, aber es war laut genug, dass ich ihn hören konnte.
"Ja, dann bis später mein Liebster. Mwah", hauchte sie einen Kuss hinterher. Dann legte die Blonde auf und warf das Telefon achtlos in ihre volle Handtasche. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich sie fragen sollte, ob es Hioska war. Aber die Antwort wollte ich nicht wirklich wissen.

"Du siehst ja mal wieder fit und munter aus", lachte Fuyume, als ich mir im Angestelltenraum die Arbeitskleidung überwarf.
"Ich habe richtig schlecht geschlafen", gähnte ich und schnürte die Schürze vorne zu.
"Verbringt denn nicht Mr. Perfekt seine Ferien bei dir?", grinste die Dunkelhaarige schelmisch.
"Stimmt. Aber er hat sich die ganze Nacht hin und her gedreht."
"Ojee, hoffentlich wird er nicht krank"
"Denke nicht..."
"Hauptsache du bleibst gesund. Jedenfalls solange, wie Noriko ihren Studentenaustausch macht."
"Ich sehe deine Prioritäten", neckte ich sie zurück. Wieder lachte Fuyume, sodass ihre Locken umherflogen.
"Sei so gut und hole die Lieferungen herein." Ich verschränkte die Arme und sah sie beleidigt an.
"Kann ja Noriko machen, wenn sie zurück ist."
"Bis die wieder da ist, sind die Erdbeertorten aber nicht mehr gut", grinste sie verschmitzt. Dabei spielte sie darauf an, wie gerne Jin und ich diese assen. Den Mund zu einer Schnute gezogen öffnete ich die Türe zum Hintereingang. Der Lieferant hatte bereits die Köstlichkeiten für heute geliefert. Also stellte ich sie in dem gläsernen Theke aus. Mit einem breiten Grinsen betrachtete ich die 20 Stück Erdbeertorte. Diese waren jeden Tag am schnellsten weg. Aber man musste auch zugeben, dass sie einfach wunderbar schmeckten. Im Schnelldurchlauf wischte ich alle Tische sauber, gab jeder Pflanze neues Wasser und richtete die Blumen auf den Tischen neu an. Mit einem leisen Brummen trat auch die Kaffeemaschine ihren Dienst an. Die Barista kümmerte sich derweil um die Bohnen.
"Cappuccino?", rief Fuyume gegen den Lärm der Mühle.
"Ja gerne", antwortete ich genauso laut. Während wir uns über die morgentliche Tasse Kaffee unterhielten, dauerte es auch nicht lange, bis die ersten Kunden hereinkamen und es sich an den Tischen gemütlich machten. Ich bediente gerade einen unseren Stammkunden, ein vielbeschäftigter Finanzassisstent, der sich mit Zeitung und Laptop bewaffnet in eine unserer Nischen gesetzt hatte, als die Klingel am Eingang einen neuen Besucher andeutete. Die Person die gleich darauf an mir vorbeiging, wollte ich beim Leben nie mehr sehen. Aber dennoch war er wieder hier, setzte sich in die hinterste Ecke und winkte mich zu sich. Mit einem aufgesetzten Lächeln trat ich an seinen Tisch heran.
"Herr Nakata...", lächelte ich, ohne dass dieses meine Augen erreicht hätte. Sein herausforderndes Grinsen wurde breiter.
"Lange nicht mehr gesehen. Akane..."

Always him... // Hisoka ff HxHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt