Kapitel 21

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Vorsichtig löste ich den Verband. Ein Zischen entschwand seinem Mund, als ich die letzte Schicht von seiner Haut abschälte. Der Schnitt zog sich von der Stirn, über das Auge, bis an sein Kinn hinunter. Behutsam drehte ich seinen Kopf hin und her. So konnte ich mir ein ganzes Bild der Wunde machen.
"Ich fange jetzt an", verkündete ich. Meine Hand am einen Ende der Verletzung angelegt, begann ich das Gewebe herzustellen. Ich tat es aber schneller als bei mir, damit wir früher zu den anderen nach unten gehen konnten. Alles geflickt, das er mir aufgetragen hatte, trat ich einen Schritt zurück.
"Und... fühlt es sich an wie vorher?"
"Ich sehe nur einen kleinen Ausschnitt in der Mitte", nuschelte er. Nachdenklich biss ich auf meiner Unterlippe herum.
"Okay, darf ich nochmals?" Gesshin erlaubte mir, weiter an ihm zu arbeiten.  Dieses Mal legte ich eine Hand auf das kaputte und eine auf das ganze Auge. Die Augen geschlossen konzentrierte ich mich auf die Unterschiede. Zum Glück konnte ich die Ursache schnell finden. Teile des Sehnerves waren ebenfalls beschädigt worden. Also reparierte ich auch sie. Wieder distanzierte ich mich von ihm. Der Mann sagte nichts, stand bloss auf.  Über den Wickeltisch gelehnt, machten sich Tränen in seinen Augen bemerkbar.
"Hallo Hayato. Dein Papa kann dich endlich ganz sehen",  schniefte er. Dieser bekam davon nichts mit. Das Traumland hatte ihn voll und ganz in seinen Bann gezogen.
"Ich glaube, ich schulde dir noch eine Erklärung", zog ich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Ich fragte mich, wie früh in meiner Geschichte ich anfangen sollte, entschied mich dann für den Beginn.

"Als Kind wurde ich an einflussreiche Leute verkauft. Ich arbeitete bei ihnen als Dienstmädchen oder Begleitung ihrer Kinder. Von Bänker, über Politiker wurde ich weitergereicht, bis ich mit 12 schliesslich bei Kazu unterkam. Ich weiss nicht, wie viel du über ihn weisst. Auf jeden Fall hatte er selbst Frau und Tochter, die unter tragischen Umständen gestorben waren. Danach nahm er mich bei sich auf. Vier Jahre lang habe ich bei ihm gelebt. Schliesslich hatte ich genug Geld zusammen, um mich freizukaufen. Das mag hart klingen, ist in dieser Szene aber leider üblich. Wir sind von da an getrennte Wege gegangen. In dieser Zeit habe ich jemanden kennengelernt. Wir waren sehr enge Freunde, bis er beschloss, mich töten zu wollen. So habe ich versucht, mich mit allen Mitteln über Wasser zu halten. Dabei habe ich die Troupe getroffen. Sie haben mich unterstützt. Als ich hörte, dass sie in Gefahr sein könnten, habe ich gar nicht lange darüber nachgedacht. Denn viele von ihnen zähle ich zu meinen besten Freunden. Nie im Leben hätte ich erwartet, dort auf Kazu zu stossen." Meine Stimme zitterte, als ich den Langhaarigen erwähnte. Wenigstens konnte ich ihn noch einmal sehen.
"Und vor allem auf dich. Ich hatte wirklich Angst, dass sie dich auch erwischt hatten, als wir ausbrachen." Gesshin hatte meiner Ausführung in Ruhe gelauscht.
"Bitte sag Ian nichts davon. Ich habe ihm nie von meiner Vergangenheit erzählt."
"Warum nicht?"
"Zum Einen weiss er nicht, was Nen ist. Wie erklärt man das, ohne wie ein kompletter Idiot zu klingen!? Zum Anderen wollte ich endlich von dieser dunklen Seite des Lebens wegkommen. Am einfachsten ging das, indem ich kein Nen mehr verwende. Aber das hat leider nur etwa ein Jahr funktioniert."
"Ich glaube, ich verstehe, was du sagen willst. Ich kenne das auch mit Satomi. Es  ist nicht einfach, mit jemandem zusammen zu sein, der Nen nicht kennt;  seine Kraft nicht versteht. Aber wenn ihr es beide wollt, dann könnt ihr es schaffen." Ich seufzte.
"Bisher haben wir es auch irgendwie hingekriegt... uhm... können wir die andere Sache... als abgehakt betrachten?"
"Gute Idee. Neuanfang?"
"Neuanfang!", bestätigte ich. Hayato schmatzte leise vor sich hin, was mich zum Schmunzeln brachte.
"Wollen wir uns dann zu den anderen gesellen?" Ich stimmte seinem Vorschlag zu.

"Da seid ihr drei ja endlich! Was hat denn so lange gedauert?", wunderte sich Rinako.
"Hayato hat mein Shirt vollgekotzt", meinte der Blonde schulterzuckend.
"Haha, ojee", lachte die Pinkhaarige.
"Könnt ihr noch Isuzu, Rina und Kichiro holen? Sie spielen oben." Satomi stellte einen riesigen Topf auf den Esstisch.
"Ich übernehme das", stellte ich mich zur Verfügung. Nachdem ich der Beschreibung gelauscht hatte, fand ich das Zimmer auch schnell. Am Türrahmen machte ich jedoch halt. Das kleine Mädchen plapperte munter darauflos, während Jin versuchte, aus ihrer verwirrten Spielgeschichte schlau zu werden. Isuzu, die neben den beiden am Boden sass, hielt ebenfalls eine Puppe in der Hand.
"Was spielt ihr denn da?", fragte ich neugierig.
"Ich bin die Mama, Roro ist der Papa und Tante Isu ist das Kind", klärte mich die Kleine auf.
"Roro?" Jin blickte mich mitgenommen an.
"Ich habe alles versucht, aber sie will meinen Namen einfach nicht sagen!" Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
"Es gibt jetzt essen, also runter mit euch!" Rina sprang sofort auf und lief zu mir an die Türe. Da stoppte sie ganz plötzlich, als hätte sie etwas wichtiges vergessen. Sie rannte zurück, schnappte sich Jins Handgelenk und zog ihn mit sich. Überrascht wie gut sie ihn offenbar mochte, folgte ich ihnen.

Beim Abendessen sass Jin neben Naohiro. Nachdem dieser ihm mit meiner Erlaubnis erklärt hatte, dass die Beziehung zwischen ihm und Seitaro ebenso romantisch wie meine mit Ians ist, unterhielten sie sich über Computer. Naohiro war sichtlich beeindruckt von Jins Wissen. Isuzu mir gegenüber seufzte.
"Wenn doch nur alle Männer so höflich wären wie dein Kleiner, dann hätte ich bestimmt keine Probleme, meinen Seelenverwandten zu finden."
"Wie war dein Date?"
"Eine einzige Katastrophe! Er hat mich auf den Weihnachtsmarkt eingeladen. Drei Stunden liefen wir zusammen durch die Stände. Ich habe mir vieles angesehen, während er bloss gelangweilt neben mir stand. Als wir uns verabschiedeten erklärte er mir, dass er Weihnachten eigentlich gar nicht mag." Ihr Gesichtsausdruck war sehr aufschlussreich.
"Das hast du persönlich genommen?", lachte ich.
"Natürlich! Ich LIEBE Weihnachten!"
"KICHIRO", rief Gesshin quer über den Tisch. Alle verstummten. Der Grauhaarige redete seinen Satz noch zu Ende und wandte sich dann dem Blonden zu.
"Ja?"
"Ich muss dir unbedingt vom Alpaka erzählen!" Die ganze Gruppe stöhnte genervt auf. Doch Gesshin liess sich nicht mehr aufhalten. In aller Ausführlichkeit berichtete er von dem Vorfall. Ich genoss den Abend in vollen Zügen. Da wusste ich aber auch noch nicht, dass mein neu aufgebautes Leben schon bald gänzlich kollabieren würde...

Weihnachten in York New verbracht, einigten wir uns darauf, Neujahr in unserer Heimatstadt zu verbringen. Jin und Ian sassen am Wohnzimmertisch und bastelten gemeinsam an einer Schaltung herum. Gedankenversunken starrte ich aus dem Fenster. Es war später Abend. Die weissen Flocken fielen schon den ganzen Tag vom Himmel und tauchten die Umgebung in ruhiges Weiss. Ich trank einen Schluck Tee. Wärme erfüllte meinen Körper. Das Klingeln der Türglocke riss mich in die Realität zurück.
"Ich mache auf", rief Jin und sprang auf. Knarrend öffnete er die Türe. Es blieb kurz still, dann ertönte seine unsichere Stimme.
"Ehm... Misaki?" Verwirrt von seinem plötzlichen Stimmungswechsel ging ich zu ihm.
"Wer ist es denn?", fragte nun auch mein Freund und folgte mir. Jin blickte mir sorgenvoll entgegen. Dann fingen meine Augen auch den Grund dafür ein.

Hisoka stand bereits im Türrahmen und erlaubte sich selbst, einzutreten.
"Was tust du hier!?", knurrte ich, als er an mir vorbei ins Wohnzimmer lief. Wir folgten ihm.
"Wer ist das?", fragte Ian gleichzeitig meinen Jungen. Dieser antwortete nicht, sondern sah bloss zwischen mir und dem Zauberer hin und her.
"Ich bin hier, um diese Schönheit wieder unter meine Fittiche zu nehmen", verkündete der Rothaarige gelassen.
"Habe ich dir nicht genug oft gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen", zischte ich leise, sodass Ian mich nicht verstand. Doch er stand viel zu nah, als dass er es nicht hätte hören können.
"Das kümmert mich nicht, Akane!"
"Akane?", warf Ian verwirrt ein.
"Kichiro geh bitte auf dein Zimmer..." Jin gehorchte sofort. Er verstand zum Glück auch, was ich ihm damit andeuten wollte, denn gleich darauf erschien er in transparenter Form wieder neben mir.
"Warum nennt er dich Akane? Hat dich nicht auch dieser Polizist Akane genannt?"
"Ich kenne ihn von früher", erklärte ich mich, ohne meinen Blick von Hisoka abzuwenden. Selbst in dieser Situation warfen mich seine goldenen Augen aus der Bahn. Dazu präsentierte das weisse Outfit seine muskulösen Arme. Die dunkelblauen Symbole auf seiner Brust bewegten sich langsam mit seiner Atmung hoch und runter.
"Ob Natsumi oder Akane oder Misaki, du änderst deine Namen mehr als andere Leute ihre Unterwäsche", grinste dieser nun.
"Misaki, was meint er damit?" Ich ignorierte Ians Frage. Erübrigt sie sich nicht sowieso mit meiner vorherigen Antwort? Wichtiger ist aber herauszufinden, warum Hisoka hier ist. Hat er nicht zugestimmt, von mir weg zu bleiben!? Kann er sich denn nie an unsere Abmachungen halten.
"Was tust du hier!", wollte ich erneut von dem Magier wissen.
"Ich bin wegen dir hier... Ich will dich zurück."
"Ich habe einen Freund Hisoka!", erklärte ich ihm das offensichtliche und deutete auf Ian, der neben mir stand.
"Genau deshalb bin ich gekommen. Es stört mich!" Ein diabolisches Grinsen schlich sich auf seine Lippen.
"Ich will nicht, dass du in einer Beziehung bist."
"Interessiert mich nicht, was du willst! Ian und ich sind glücklich zusammen", knurrte ich.
"Die Frage ist doch, ob du ihn wirklich liebst... Oder magst du ihn nur, weil du die Macht über ihn besitzt, die ich dir nie über mich gegeben habe?" Völlig bewusst traf er den wunden Punkt in mir. Dadurch, dass er genau wusste, was ich für ihn empfand, nutzte er es auch sehr gekonnt aus. Seiner Mimik konnte ich ablesen, dass er gerade ein neues Spiel begonnen hatte. Und mit seinem Auftauchen startete der Katastrophe zweiter Akt.

Always him... // Hisoka ff HxHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt