Kapitel 8

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Mein Blick lag auf Ian. Einen kurzen Moment sah auch er mich an. Doch der Blauäugige senkte den Kopf schnell wieder. Ich brauchte keine Magie um zu sehen, dass er es bereute. Vor allem nachdem, was sie ihm und mir angetan hatten. Die Seitentüre wurde eingetreten. Der Schwarm einer Sondereinheit stürmte die Halle. Dahinter folgten zwei Personen. Der Jüngere mit Polizeiuniform blieb stehen und besprach sich kurz mit der Einsatzleitung. Der Ältere kam langsam auf uns zu. Über seinen Arm hatte er einen braunen Mantel gelegt.
"Detektiv Ippei", mumelte Jin leise. Vor unseren Augen führte die Spezialeinheit den fehlgeleiteten Kriminalisten und seinen Komplizen ab. Ippei sprach kurz mit ihm und zupfte dem aufdringlichen Kollegen dann ein kleines Gerät aus der Hosentasche. Auf einen Knopfdruck öffneten sich die Fesseln um unsere Arme. Ich stand sofort auf und drehte mich zu meinem Freund, während Nakata aus dem Raum geführt wurde. Ians Arm sah schrecklich aus. Glücklicherweise war es ein geschlossener Bruch, sodass die Gefahr einer Infektion um einiges niedriger war. Aber ansonsten war mit einer Spiralfraktur nicht zu spassen. Und Ians Gesichtsausdruck zufolge tat es verdammt weh.
"Die Ambulanz wurde verständigt. Sie sind gleich da", versicherte der Polizist, der nun dazukam. Jin stellte sich neben mich. Ich wischte mir kurz die falschen Tränen aus dem Gesicht, liess mir aber nicht anmerken, dass das Schauspiel zuvor alles gelogen war.
"Das sind die beiden, die uns befragt haben", flüsterte der Junge leise. Der Ältere lächelte mich freundlich an.
"Guten Tag, es freut uns, auch Sie endlich kennenzulernen." Er stellte sich und seinen Kollegen vor. Umon half sofort dabei, die Sanitäter zur Unfallstelle zu geleiten. Wenn man das denn so nennen konnte. Immerhin war es geplant und kein zufälliges Aufeinandertreffen. Da der Polizist mit Ian und den Rettungskräften beschäftigt war, wendete sich Ippei an mich.
"Wir haben von dem Unglück in der Asservatenkammer erfahren und den Mitarbeiter befragt. Wie es scheint, hatte Nakata etwas damit zu tun. Wir prüfen das noch. Aber es war Grund genug, ihm zu folgen. Natürlich haben wir sofort ein Sonderkommando angefordert, aber die sind erst gerade angekommen. Wir hatten wohl Glück, dass nicht noch schlimmeres passiert ist! Wir bringen Sie ins Krankenhaus. Sie werden aber bestimmt in den nächsten Tagen nochmals zur Aussage vorgeladen." Seine ruhigen Augen musterten mein verwundetes Gesicht und fielen danach auf Jin.
"Hat er dir auch etwas getan?"
"Nein, nur angedroht", beantwortete dieser die Frage. Ippei nickte verstehend. Ich spürte durch die Regung in Jins Ring, dass er dem Detektiven Vertrauen schenkte. Also beschloss ich, es ebenfalls zu tun.
"Miss, Sie können mitfahren, wenn Sie wollen. Aber wir müssen schnellst möglich los. Er muss unbedingt in den OP!"
"Natürlich... Wenn wir denn dürfen?" Fragend sah ich die Polizisten an.
"Ja klar, gehen Sie ruhig und lassen Sie sich auch untersuchen. Wir wissen ja, wo wir Sie finden", entliess uns Umon.
"Vielen Dank", lächelte ich und lief der Trage hinterher, auf welcher Ian festgemacht war.

Jin und ich konnten beide mit der Ambulanz mitfahren. Im Krankenhaus wurde Ian auch gleich in den Operationssaal gebracht. Natürlich hätte ich ihn innerhalb einiger Minuten heilen können. Aber dann hätte er bestimmt den Verstand verloren. Also warteten wir drei Stunden, bis uns die Ärzte endlich zu ihm liessen. In der Zwischenzeit hatte sich eine nette Krankenschwester um mein Gesicht gekümmert. Für meine Arme konnte sie nur Schmerztabletten anbieten, aber ich lehnte ab. Ich würde sie sowieso auf dem Nachhauseweg selbst reparieren. WIr begaben uns in Ians Zimmer. Da das Krankenhaus wenig belegt war, hatte er sogar eines für sich alleine.
"Kichiro, kannst du in der Mensa Schokolade holen? Für uns drei?", fragte ich den Jungen, der gleich freudige Augen bekam.
"Ja klar!" Ich drückte ihm einen Geldschein in die Hand und der Kleine zog ab. Neben dem Krankenbett stand ein Stuhl, den ich mir heranzog und mich auf ihm niederliess.
"Ich denke wir haben Redebedarf", sagte ich leise und sah Ian in die Augen. Er hielt meinem Blick nur kurz stand. Dann senkte er ihn und schaute seinen demolierten Arm an.
"Ich denke nicht..." Ian schwieg. Unsicherheit machte sich in mir breit. Würde er mich jetzt verlassen!? Die Stille schmerzte in meinen Ohren mehr, als die Wunden es an meinem Körper taten. Als er sich die richtigen Worte zusammengelegt hatte, fingen seine Augen meine ein.
"Du hast Recht, deine Vergangenheit geht mich nichts an. Was du auch immer getan und wen auch immer du getroffen hast, liegt weit zurück. Wir haben uns getroffen und ich habe mich in dich verliebt. Ich liebe die Version von dir, die abends mit mir kuschelt und bei Romanzen weint, die Kichiro tadelt wenn er Süsses isst, aber sobald er im Bett ist eine Tafel Schokolade verputzt. Ich liebe die Version von dir, die mich böse anschaut, wenn ich Anspielungen auf Sex mache, wenn Kichiro in der Nähe ist. Nichts davon ist abhängig von der Person, die du einmal warst. Was wahr ist und was nicht... es ist mir egal! Lassen wir deine Vergangenheit hinter uns und bauen uns eine Zukunft! Du, Kichiro und ich. Werfen wir die Schatten ab und schreiten gemeinsam ins Licht."

Das klang zu poetisch, um wahr zu sein. Doch Ians ernstem Gesichtsausdruck zufolge, meinte er es so. Sprachlos nickte ich, zu überfordert, um anders reagieren zu können.
"Ich werde dich nicht mehr danach fragen... Versprochen! Aber ich will endlich ein ganzer Teil von deinem Leben sein! Ich will, dass du mir vertraust..."
"Das tue ich!" Ein breites Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, bevor er sie zu einem Kussmund spitzte.
"Krieg ich einen? Das hilft bestimmt bei der Heilung." Ich schnaubte kurz vergnügt auf und drückte dann meinen Mund auf seinen. Jin kam in den Raum, weswegen wir uns voneinander lösten. In einer Hand hielt er zwei verpackte Schokoriegel. In der anderen hielt er ein Stück von dem er abbiss. Der Grauhaarige übergab mir einen, den anderen öffnete er großzügigerweise, da Ian das mit dem fixierten Arm weder konnte noch sollte. Dem Jungen meine flache Hand hinhaltend, wartete ich.
"Was?"
"Das Rückgeld?"
"Oh, gab keines", murmelte er und stopfte sich den Rest der Süssigkeit in den Mund.
"Was es gibt keines?", fragte ich verwirrt.
"3 Schokoriegel haben bestimmt nicht 400 Jenny gekostet."
"Ich hab vielleicht noch ein oder zwei Stück Kuchen gegessen..." Jin lächelte mich entschuldigend an. Ich blinzelte ungläubig.
"...Das... Du hast..." Mir fielen keine Worte ein. Dieser Junge tat einfach nicht, was man ihm sagte. Ian begann zu lachen. Er legte seinen gesunden Arm um meine Schulter.
"Diese Sprachlosigkeit mag ich ebenso", flüsterte er in mein Ohr. Ich verdrehte die Augen, musste aber auch grinsen.

Da meine Wohnung noch immer beschlagnahmt war, kamen wir einige Tage bei Ians Freund unter. Ich kannte ihn noch von damals, als mein Freund noch hier gewohnt hatte. Aber glücklicherweise gab die Polizei mein Appartement nach einer Woche wieder frei. Natürlich machte ich mich sogleich daran, sie von den Spuren des Spezialeinsatzes zu befreien. Während ich bis in die hintersten Winkel staubsaugte, zog der Bilderrahmen mit den beiden Karten meinen Fokus wie magisch auf sich. Etwas war seltsam daran. Aber ich konnte es nicht greifen. Also schaltete ich das Gerät aus und näherte mich wachsam den Karten an. Je näher ich kam, desto auffälliger wurde es. Denn eine Karte war anders. Auf dem Glas klebte ein weiterer Joker. Verblüfft entfernte ich sie davon. Im Bilderrahmen selbst nahm der Joker seinen üblichen Platz ein. Interessiert drehte ich den kleinen Karton um. In geschwungenen Buchstaben stand:

'Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst!'

Ich atmete laut aus.
"Ist etwas?", rief Jin aus seinem Zimmer.
"Nein, alles gut!", antwortete ich mit derselben Lautstärke.
"Okee" Gedankenversunken dachte ich darüber nach, was ich damit jetzt anstellen sollte. Ein leises 'Puff' zog mich aus den Gedanken. Mit schnellen Schritten begab ich mich in das Zimmer, aus dem der Ton gekommen war. Jins Gesicht war rabenschwarz, bis auf den Streifen, der durch die Schutzbrille verdeckt wurde, die er sich gerade auf den Kopf schob. Beruhigt lehnte ich mich an den Türrahmen.
"Sprengst du mir bitte nicht gleich das Dach weg, jetzt wo wir endlich wieder Zuhause sein können!"
"Wenn es denn sein muss...", grinste der Junge.
"Willst du probieren?" In seiner Hand hielt er eine verlängerte Wäscheklammer aus Holz, worin ein Reagenzglas eingeklemmt war. Die giftgrüne Farbe des Inhalts sah nicht sehr appetitlich aus.
"Ich verzichte", zwinkerte ich, woraufhin er mit den Schultern zuckte.
"Dein Verlust..." Seine Augen überflogen die Anleitung.
"Ohhhh... Ich hätte erst die Säure zugeben und es dann aufkochen sollen!" Ich liess ihn in Ruhe weiter experimentieren. So widmete ich mich wieder der Karte in meiner Hand. Ich dachte das Thema Hioska hätte sich damit erledigt, als wir uns darauf einigten, dass wir nicht zusammen gehören. Aber scheinbar wollte es mir der Rothaaige extra schwer machen. Ich trat in die Küche und öffnete die Schranktüre, wohinter sich der Abfall befand. Doch ich zögerte. Schliesslich schloss ich das Schränkchen und liess die Karte in meine Handtasche fallen.

Always him... // Hisoka ff HxHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt