Kapitel 27

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Träge starrte ich an die Decke. Über die Anzahl Tage, die ich hier schon herumlag, hatte ich vor langem den Überblick verloren. Mein Leben fällt auseinander, Stück für Stück. Und ich kann es nicht aufhalten, ging mir der Gedanke durch den Kopf, der mir schon seit Wochen die letzte Energie raubte. Mir wurde unglaublich warm, also schlug ich die Decke zurück. Der Gestank, der mich gleich darauf traf, liess mich würgen. Hatte ich es wirklich schon so weit kommen lassen. Deprimiert drehte ich mich zur Seite, hielt den Geruch aber nicht mehr aus. Ich wälzte mich schlagartig aus dem Bett. Mein Kreislauf war sich diese schnellen Bewegungen nicht mehr gewohnt, weswegen mir kurz schwarz vor Augen wurde und ich taumelte. Den Fuss am Türrahmen angeschlagen, krallte ich mich daran fest und zischte schmerzerfüllt auf. Tief atmend versuchte ich mein Herz in Gang zu bringen, während sich Tränen in meine Augen trieben. Aber so sog ich nur noch mehr der schrecklichen Duftstoffe in meine Lungen. Ich schaffte die zwei Schritte ins Bad gerade noch so, bevor ich mich schwallartig erbrach. Verdammt, hätte ich mich gestern besser nicht überreden lassen, Mittag- und Abendessen zu mir zu nehmen. Mein Magen entleerte sich in Schüben.
"Ojee", murmelte eine Stimme neben mir. Gleich darauf stellte Jin die raschelnden Einkaufstüten auf dem Tisch ab. Der Junge hockte sich neben mich. Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich liess meinen Kopf auf den Arm sinken, der über das WC hing. Jins schwache Aura bewegte sich. Plätschernd liess er Wasser in die Wanne einlaufen.
"Es wird Zeit für ein Bad. Ich mache jetzt euer Schlafzimmer sauber, also lasst Euch Zeit, ja?!" Ich nickte nachgebend. Selbst um mich ihm entgegenzusetzen, hatte ich keine Kraft. Mein Kopf dröhnte. Ein paar Minuten später kam der Grauhaarige zurück und half mir in die Badewanne. Sie war zu klein, als dass ich der vollen Länge nach hineinpassen könnte, trotzdem genoss ich das warme Wasser und den angenehmen Geruch, den es verströmte.

Ich versuchte beide, Ian und Hisoka, aus meinen Gedanken zu vertreiben. Ich hatte keine Tränen mehr übrig und echt genug geweint. Trotzdem stimmte mich das ganze traurig. Federleicht strich ich der Narbe in meiner Hand nach. Damals war das Leben noch leicht. Ich hatte einen Job, einen Liebhaber, der mich zugegebenermassen extrem zufriedenstellte und ein Leben, das sich nicht all halbes Jahr um 180 Grad kehrte. Nachdenklich liess ich meine Erinnerungen mit dem Wasser treiben. Wann war der Zeitpunkt, an dem alles kippte? Wann hatte ich mich falsch entschieden. Wann hatte ich den dunklen Weg beschritten? Je härter ich darüber nachddachte, desto verworrener wurde es. Was ich aber wusste war, dass ich der Phantom Troupe aus dem Weg gehen musste, da ich den Schlüssel zum Petokei besass und dass ich Hisoka aus dem Weg gehen wollte, weil er keinen Platz mehr in meinem Leben haben sollte. Mein Blick glitt über den geschundenen Körper, der halb mit Wasser bedeckt war. Die Narben, abgemagerte Haut, hervorstehende Knochen, bald könnte ich als Skelett in Filmen auftreten. Bei jeder Bewegung zitterte ich, weil mein Körper krampfhaft versuchte, Energie aus dem Essen zu gewinnen, das er nicht erbrach. Und das war nun wirklich nicht viel. Ich rieb mir die Augen. Immer wieder blitzte es auf und mein Sichtfeld verschwamm für ein paar Sekunden. Aber dem schenkte ich kaum mehr Beachtung. Meine körperlichen Symptome waren rein psychischen Ursprungs. Der Verlust meiner Beziehung mit Ian traf mich härter, als ich es mir jemals erträumt hatte. Er war eine wichtige emotionale Stütze in meinem Leben, was mir erst jetzt auffiel, da sie nicht mehr vorhanden war. Dazu kam noch, dass mich die Worte des Magiers an Neujahr gehörig aus der Bahn warfen. Ich wünschte, er hätte die Wahrheit gesagt. Dann könnte ich mir nämlich sicher sein, dass ich ihm wichtig war. Aber leider konnte ich ihn noch nie lesen, weswegen die Ungewissheit jetzt nur noch stärker zu Tage trat. Ich wollte mich der Hoffnung nicht mehr hingeben. Sie schmerzte jedes Mal noch mehr, als das zuvor. Trotzdem entschied sich mein Herz am laufenden Band dazu, es wieder zu tun. Na super, jetzt denke ich schon wieder daran! Ich liess mich bis zur Nase ins Wasser gleiten. Blubbernd stieg die Luft aus meinem Mund auf. Mit einem Mal verstummte der Staubsauger. Der Kleine trat ins Bad und krempelte in einer handwerkerlichen Geste seine Ärmel hoch. Braune Augen musterten mich besorgt.
"Meister, Ihr seid kein U-Boot. Kommt heraus, bevor ihr untergeht", wandelte er seine Befürchtungen in Worte um. Ein leichtes Lächeln zierte meine Lippen. Er versuchte immer wieder mich aufzuheitern. Es war eine nette Geste, aber viel brachte sie nicht.

Jin nannte mich seither Meister, da ich so weder an den einen, noch anderen Namen erinnert wurde, mit welchem ich Scheisse gebaut hatte. Ohne ihn, hätte ich mir wahrscheinlich schon vor einer Weile ein Ende gesetzt. Aber ich konnte ihn nicht alleine lassen. Doch zu aller erst musste ich aus dieser Misere entkommen. Seufzend trocknete ich mich ab, zog mir frisch gewaschene Klamotten über und setzte mich mit der Kuscheldecke bewaffnet auf einen der Stühle am Esstisch. Jin verschwand erneut in meinem Schlafzimmer. Als er es verliess, zog er die Türe hinter sich zu. Ich erhob mich, um in den Raum zurückzukehren, hielt aber Inne. Wieder einmal verschwamm mein Sichtfeld.
"Meister, wir gehen an die frische Luft!", ordnete der Kleine an. Ich blinzelte verständnislos. Aber er setzte die Strassenschuhe vor mir ab und legte mir die Jacke um die Schultern.
"Ich glaube, ich kann nicht", flüsterte ich heiser. Meine Beine zitterten und mein Puls raste. Jin lächelte mich schief an.
"Könnt Ihr nicht, oder wollt Ihr nicht?!", fragte er in skeptisch-scherzendem Ton.
"Beides..."
"Es wird Ihnen gut tun, glauben Sie mir!" Ich seufzte und blickte ihn an, ohne dass meine Augen zur Ruhe gekommen wären.
"Nur ein kleines Stück." Ich nickte leicht.
"Okay." Meine Stimme war kaum ein Hauch dessen, was sie einst war.

Wir hatten uns gerade einmal hundert Meter vom Gebäude entfernt, als mein Körper schlapp machte. Ich hielt mich laut schnaufend an einem Gartenzaun fest und kämpfte gegen die Übelkeit. Jins kleine Hand strich behutsam über meinen Rücken. Glücklicherweise war in dieser Gegend fast nichts los. Deswegen ernteten wir auch keine komischen Blicke.
"Wie weit wollen wir noch laufen?", jammerte ich an meinem Limit.
"Das spielt keine Rolle, aber ich würde gerne jeden Tag mit Ihnen laufen gehen. Jeden Tag ein Stück weiter", meinte der Junge und beobachtete einige Vögel im Baum. Der Rückweg dauerte ewig, obwohl das Haus praktisch vor unserer Nase lag. Kaum hatten wir die Wohnung betreten, warf ich mich aufs Bett. Ich kuschelte mich ein und döste auch gleich weg. Es war das erste Mal seit langem, dass ich ohne Jins Hilfe schlafen konnte.

Tatsächlich hatte Jin Recht. Die Spaziergänge fielen täglich etwas länger aus und die frische Luft befreite meinen Kopf. Ich zwang mir das Essen hinunter und auch, es tatsächlich drin zu behalten, was Jin merkte und mich deswegen lobte. Man könnte meinen, dass das nicht viel ausmacht. Aber da der Junge mein einziger sozialer Kontakt war, war ich ihm unglaublich dankbar. Ich hatte zwar noch immer Probleme, die Nahrung in mir drin zu halten. Trotzdem hing mein Kopf deutlich weniger über der Kloschüssel. Meine Kräfte kehrten ganz langsam zurück. Jins Geduld erwies sich dabei als ausserordentlich hilfreich. Es war ihm dementsprechend auch wichtig, mich wieder hinzukriegen. Müde betraten wir gerade die Wohnung. Obwohl es in Strömen regnete, entschlossen wir uns dazu, unseren Spaziergang durchzuführen. Nun waren wir beide klatschnass.
"Geht Ihr zuerst duschen. Es ist wichtig, dass Ihr euch nicht erkältet!", meinte Jin, kam aber mit mir ins Bad, um sich den nassen Klamotten zu entledigen. Diese warf er achtlos ins Waschbecken und wickelte sich ein Badetuch. So verliess er den Raum, damit ich duschen konnte. Die Kleidung klebte an meinem Körper, wodurch ich schon einige Schwierigkeiten hatte, sie zu entfernen. Zitternd versuchte ich meinen Pullover über den Kopf zu ziehen. Das geschafft, stellte ich das Wasser auf warm. Meine Kleider waren sowieso schon total durchnässt, sodass ich sie mir gleich gut unter dem warmen Strahl des Duschkopfes entledigen konnte.

Während Jin sich frisch machte, setzte ich mich zu dem Tee an den Tisch, den der Junge für mich vorbereitet hatte. Mein Blick auf die Aussenwelt gerichtet, hielt ich die Tasse in meinen Händen. Das vibrierende Geräusch eines Smartphones zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Gelangweilt nahm ich es zur Hand. Die Erinnerung eines Feiertages erschien auf dem Display. Ich tippte meinen Code ein. Die Kontakte geöffnet, zögerte ich kurz. Schliesslich machte ich Hisokas Nachrichten wieder zugänglich. Als ich den Messenger öffnete, mit welchem wir uns früher unterhalten hatten, traf mich eine herbe Enttäuschung. Keine einzige Mitteilung. Meine Zunge fuhr unruhig über meine Lippen. Naja immerhin hatte ich mich eine ganze Weile nicht mehr gemeldet, also war es verständlich, dass er sein Interesse verloren hatte. Gerade als ich die App schliessen wollte, änderte sich das 'zuletzt online' zu 'online'. Ich legte den Kopf schief und wartete. Unserem Verlauf zu urteilen, würde sowieso nichts passieren.

'online'
'tippt...' Mein Herz setzte aus. War er wirklich gerade dabei, mir zu schreiben!?
'online'
'tippt...'
'online'
'zuletzt online vor 1 Minute'

Da hatte ich meine Hoffnungen mal wieder zu hoch gehalten, dachte ich deprimiert und drückte die Aus-Taste. Wäre ja auch zu viel verlangt.

Always him... // Hisoka ff HxHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt