Warum nicht ?

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Der Abend verläuft dann doch anders, als ursprünglich geplant.
Harry kommt nicht um 22.00 Uhr, sondern erst um 23.00 Uhr bei mir an und als er vor mir erscheint, kann ich ihm die Müdigkeit deutlich ansehen. Ein Gähnen unterdrückend betritt er meine Wohnung, streift sich die Schuhe von den Füßen und zieht mich in eine träge Umarmung.
"Hi", kommt es leise aus seinem Mund, gefolgt von einem sanften Kuss auf meine Schläfe. Lächelnd löse ich mich aus seinen Armen, streiche ihm über die Wange und mustere die müden Augen. "Du hättest nicht vorbeikommen brauchen".
Sofort schüttelt er den Kopf, unterdrückt dabei erneut ein Gähnen. "Ich wollte dich aber sehen".

Schnell ist klar, dass dieser Abend ruhig verlaufen wird. Ich biete dem Kunsthändler etwas zu Essen an, doch der winkt ab. Stattdessen machen wir es uns mit einer Tasse Tee auf meinem Sofa gemütlich, nebenbei läuft ein Film auf dem Fernseher und als Harry seine Tasse geleert hat, kuschelt er sich mit dem Kopf auf meinen Schoß, während meine Finger sanft durch seine Haare streichen. Das Kribbeln habe ich dennoch in meinem Bauch, warum auch nicht? Diese ruhige Kuscheleinheit auf meinem Sofa sorgt ebenfalls für Schmetterlinge in meinem Bauch und wenn ich ehrlich bin, genieße ich diesen Moment vielleicht sogar ein bisschen mehr, als den heißen, leidenschaftlichen Sex, den wir sonst haben. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, Himmel nein, niemals, aber das hier - das hier ist etwas ganz Besonderes. Es fühlt sich gut an, geborgen. Ein Gefühl, welches ich selten verspüre.
Aber bei Harry häuft es sich enorm.

Nach noch nicht einmal der Hälfe des Filmes schläft der Lockenkopf ein, den Mund dabei leicht geöffnet und sieht dabei einfach unfassbar schön aus. Heimlich greife ich nach meinem Handy, knipse ein Bild von ihm und versuche ihn dann vorsichtig zu wecken. Er soll nicht auf dem Sofa schlafen. Das Bett ist tausendmal bequemer. Ich spreche da aus Erfahrung und sein Rücken wird es mir danken.
Verschlafen und mit halb geschlossenen Augen trottet er mir hinterher, hebt dabei seine Füße nicht richtig an und schlurft eher, anstatt dass er geht. Wenn er jetzt noch eine Kuscheldecke in der Hand hätte, wäre das Bild perfekt.
Mühsam zieht er sich aus, verzichtet auf das Zähneputzen und kuschelt sich direkt unter meine dicke Decke. Ich folge ihm wenige Minuten später, stelle meinen Wecker und ziehe ihn in meine Arme, ein sanfter Kuss auf seine Stirn folgt und wird mit einem wohligen "Hmmm" kommentiert.
Plötzlich flammen Worte in meinem Kopf auf, die ich aber schnell wieder zur Seite schiebe. Ich schlucke, betrachte den wunderschönen Mann in meinen Armen und merke, wie sich mein Herzschlag beschleunigt.
Nein, dafür ist es noch viel zu früh.  

Am nächsten Morgen ist Harry bereits verschwunden. Die Betthälfte ist kalt und deutet darauf hin, dass er nicht erst seit fünf Minuten weg ist.
Ich gehe in meine Küche, brauche dringend einen Kaffee und danach eine heiße Dusche, als mir etwas ins Auge fällt. Verwundert schaue ich auf einen kleinen Post-it, der an meiner Kaffeemaschine klebt.

Tut mir leid, Darling. Ich musste um 4.00 Uhr schon wieder an einer Auktion teilnehmen. Vielleicht bis heute Abend?

Love, H.

~~**~~

"Los, beeil dich".
Liam kommt mir, mal wieder, auf dem Parkplatz des Reviers entgegengerannt. Ich ahne, was das heißt, steige in den Streifenwagen ein und sehe dann zu meinem besten Freund, der bereits den Motor gestartet hat und losfährt.
"Museum?"
"Galerie".
Ich nicke und seufze dabei leise. Ich hasse es, wenn es so stressig beginnt. Normalerweise möchte ich erst einen Kaffee trinken, ein bisschen Smalltalk mit meinen Kollegen führen und dann starten. Aber heute ist es mir anscheinend vergönnt.

Die Galerie ist klein, aber die Gemälde die ausgehangen sind, sehen dafür umso teurer aus. Und auch der Mann, der uns in Empfang nimmt, sieht aus, als seien selbst seine Socken so teuer wie ein Neuwagen.
"Gott sei Dank", murmelt er und eilt in das Innere der Galerie. "Ich...ich weiß auch nicht, aber irgendwas stimmt hier nicht".
Wir bleiben an einem Bild stehen, erkennen aber auf den ersten Blick nichts. Natürlich nicht.
"Eigentlich ist nichts zu sehen", beginnt der Galerist und deutet auf das Bild direkt vor uns. "Aber mein Sicherheitsmann hat heute Morgen Alarm geschlagen und die Videoaufnahmen sind sehr eindeutig."
"Können wir die Aufnahmen sehen?", möchte ich wissen und der Typ, der uns nebenbei bemerkt noch gar nicht seinen Namen verraten hat, nickt und tippt auf seinem Tablet herum.
"Hier, das war heute Morgen".
Liam und ich sehen auf den Bildschirm und erkennen die Ecke, in der wir uns gerade befinden. Die Kamera erfasst vier Bilder und eine Skulptur, ansonsten ist nichts zu sehen.
"Warten Sie einen Augenblick".

Vier Minuten später erkennt man dann endlich etwas. 
Wie aus dem Nichts erscheint eine schwarz gekleidete Person im Bild. Unhandlich transportiert sie einen großen, eingehüllten Gegenstand unter dem Arm - die Fälschung.
Die Bewegungen sind geübt und schnell und ehe wir uns versehen, sind die Bilder getauscht und das in weniger als zwanzig Sekunden. 
Okay, wow.
Dieser Dieb ist wirklich flink unterwegs.
Doch dann bleibt der Dieb an dieser Skulptur hängen, stolpert und landet auf dem Boden. Wenn es hier nicht um einen Diebstahl gehen würde, würde ich vermutlich jetzt loslachen, aber das wäre sehr unprofessionell. Dennoch kann ich mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Schnell rappelt sich unser Dieb aber wieder auf, scheint sich allerdings verletzt zu haben, denn es ist deutlich zu erkennen, dass er nun humpelt, dennoch aber schnell den Raum verlässt.
Wenige Sekunden später sieht man den Sicherheitsmann auf der Aufnahme, doch dann bricht unser Gegenüber ab und räuspert sich.

"Er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe schon versucht zu erkennen, ob es sich hier um eine Fälschung handelt, aber ich konnte nichts erkennen."
"Wir haben da einen Experten", kommentiere ich und greife nach meinem Handy, um May anzurufen. Bei dem Gedanken daran, dass Harry hier bald erscheinen wird, beginnt es wieder in meinem Bauch zu kribbeln und verlegen beiße ich mir auf meine Unterlippe, damit ja niemand hier das dämliche Grinsen in meinem Gesicht sehen kann.
Verliebt sein ist wirklich anstrengend.

Zu meiner Verwunderung, ruft May mich allerdings nach wenigen Minuten zurück.
"Er kann nicht kommen", höre ich sie sagen und merke, wie meine Laune sinkt.
"Warum nicht?".
Ich höre sie leise lachen und bemerke selbst, dass meine Frage wenig professionell war. Aber gut, anscheinend hat es niemand außer May mitbekommen. 
"Er hängt noch bei einer Auktion fest. Ihr sollt das Bild mit auf das Revier nehmen, er wird es später abholen lassen".
Toll.
Also sehe ich ihn doch erst heute Abend.
Wie scheiße wird dieser Tag eigentlich noch?

Der Kunsthändler Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt