Richtig erkannt.

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An Schlaf ist bei mir nicht mehr zu denken und so komme ich vollkommen erledigt einige Stunden später auf dem Revier an, bereit, meine Nachtschicht zu bestreiten.
Begleitet werde ich von einem fiesen Magenziehen und einem Gefühl, welches ich nicht in Worte fassen kann.

Als ich durch den Eingangsbereich gehe, ignoriere ich May gekonnt. Sie sieht zwar zu mir auf, jedoch ist sie klug genug, kein Wort zu mir zu sagen.
Mit ihr habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen. Aber nicht jetzt. Dazu muss ich bei klarem Verstand sein und auch ein wenig ausgeschlafener.

Ob Harry heute Nacht wieder zuschlagen wird?
Ob er es so einfädelt, dass er an den Tatort kommen muss?

Bitte nicht. Ich will ihn nicht sehen.

"Du siehst wieder aus, wie das blühende Leben", begrüßt mich Mike und mustert mich eingängig. "Im Ernst, alles okay?"
Ich nicke, greife meine Tasse und fülle sie mit Kaffee.
"Ja. Ich konnte nur nicht so gut schlafen."
Gelogen ist das ja nicht. Nur den Grund dafür muss er ja nicht erfahren.

Der erste Schluck Kaffee findet den Weg in meinen Mund, während ich abwartend zu Mike und Scott schaue.
"Haben wir irgendwas?"
Scott nickt, zieht sich seine Jacke an und nimmt seine Marke vom Schreibtisch.
"Ladendiebstahl. Mike und ich wollten gerade los."
Wie auf das Kommando schnappt sich auch Mike seine Marke und nickt, dann verschwinden die beiden ohne ein weiteres Wort.

Unbehagen macht sich in mir breit, als mir bewusst wird, dass ich nun mit May alleine bin.
Doch zu meiner Rettung erscheint genau in diesem Augenblick Liam im Eingangsbereich. In seinen Händen eine große Box, die das Essen für die Nacht verspricht.
"Wo wollen die beiden hin?"
"Ladendiebstahl", verkünde ich und räume den Tisch neben der Kaffeemaschine frei, damit Liam die Box abstellen kann.
"Dann muss das Essen noch warten. Niall hat uns Hackbraten gemacht."

Ich seufze und merke, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Wirklich viel gegessen habe ich heute nicht. Lediglich eine Dose Ravioli habe ich mir heute Mittag warm gemacht, aber auch die habe ich nur halbherzig gegessen.

Während Liam das Essen im Kühlschrank verstaut, fülle ich seine Tasse mit Kaffee und stelle sie auf seinen Platz. Dankend lächelt er mich an, als er sich auf seinen Stuhl fallen lässt und einen kräftigen Schluck trinkt. 
Sein Blick geht zu mir, er mustert mich und zieht dabei seine Stirn in Falten.
"Was hat er gemacht?"
Ich verdrehe meine Augen, trinke einen weiteren Schluck Kaffee und verfluche meinen besten Freund zum millionsten Male dafür, dass er mich wie ein offenes Buch lesen kann. 
"Tja", beginne ich und setze mich auf die Kante seines Schreibtisches.
"Wie sich herausgestellt hat, lag ich mit meiner Vermutung richtig und er hat mich angelogen."
Ich schaue nicht zu May, weiß aber ganz genau, dass sie uns zuhört. 
"Du hast ihn also darauf angesprochen?"
Zögerlich nicke ich. "So in etwa. Er hat es zugegeben und nichtmal versucht es zu leugnen."
Mein bester Freund schnauft und schüttelt seinen Kopf. Er ist jedoch so feinfühlig und fragt nicht nach, worum es geht. Er kennt mich und weiß, dass ich es ihm irgendwann erzählen werde. 
Oder auch nicht, wie in diesem Fall.
Denke ich.
Darüber muss ich mir noch Gedanken machen. Immerhin hängt meine Zukunft von diesem beschissenen Fehler ab.

"Und jetzt?", will er wissen und neigt seinen Kopf leicht zur Seite.
"Nichts. Ich will ihn nicht mehr sehen."

Mays Blick brennt sich in meinen Rücken und als ich dann doch zu ihr schaue, sieht sie mir direkt in die Augen. Sie gibt sich nichtmal die Mühe so zu tun, als wenn sie nicht lauschen würde.
"Ist vermutlich besser so. Ich meine, wenn er dich schon am Anfang eurer Beziehung anlügt, wie soll das dann enden?"
Im Gefängnis, ganz sicher.
Doch diesen Gedanken behalte ich für mich.

"Es ist überhaupt nicht besser so!", mischt sich nun doch May ein und steht von ihrem Platz auf. Liam sieht sie überrascht an, als sie ebenfalls an seinem Schreibtisch ankommt und ihre Hände in ihre schmale Taille stemmt.
"Weißt du eigentlich, wie er leidet, Louis? Nach deinem Abgang ging es ihm hundsmiserabel."
"Moment! Du kennst ihn?", mischt sich Liam ein und bekommt von May ein abwesendes Nicken.
"Du hast seine komplette Welt zerschmettert", motzt sie weiter und sieht mich so wütend an, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft.
"Woher kennst du ihn denn bitte?"
Liam ist sichtlich verwirrt und fragt sich sicherlich, warum er als mein bester Freund meinen Freund nicht kennt - Ex-Freund, sorry.
"Er ist mit meinem Freund befreundet."
Mein bester Freund nickt, wirft mir einen kurzen Blick zu und ich ahne, dass es einiges an Redebedarf gibt. 
"Wie kannst du ihm nur unterstellen, dass seine Gefühle für dich gelogen sind, Louis? Damit hast du ihn richtig verletzt."
Genervt stoße ich meine angesammelte Luft aus und stehe von Liams Schreibtisch aus. 
"Dein beschissener Ernst, May?"
Sie weiß doch ganz genau, dass es nicht nur darum geht.
"Er leidet, Louis."
"Toll", brumme ich und fülle meine Kaffeetasse erneut. Vielleicht bekomme ich ja einen Herzinfarkt. Dann muss ich mich mit diesem Scheiß wenigstens nicht mehr auseinandersetzen.
"Er hat ihn angelogen, May! Louis' Verhalten ist absolut gerechtfertigt."
Liam sieht mich besorgt an, dann geht sein Blick zurück zu May. "Er hat vollkommen richtig gehandelt."

In dem Punkt vielleicht, in allen anderen eher nicht.

"Pah! Du hast doch überhaupt keine Ahnung worum es hier geht", keift sie und zieht ihre Augenbrauen noch enger zusammen. 
Dafür, dass sie so klein und zierlich ist, hat sie eine ziemlich angsteinflößende Ausstrahlung. 
"Richtig erkannt", höre ich meinen besten Freund murmeln und spüre unweigerlich seinen Blick auf mir. 

"Mir wird das hier zu dumm", motze ich und greife nach meinem Schlüsselbund, welcher auf meinem Schreibtisch liegt. 
"Was hast du vor?"
"Ich gehe ins Archiv." Demonstrativ wedele ich mit meinem Schlüsselbund, ignoriere May erneut und sehe meinem besten Freund in die braunen Augen. 
"Ich brauche ein bisschen Ruhe."

Der Kunsthändler Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt