2. Kapitel

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June {Heute}

Ich spürte das regelmäßige Summen meines Handys, das neben meinem Kopf auf der Matratze lag und mich aus meinem Schlaf riss.

„Ja?", brummte ich mit verschlafener Stimme.

„Sag mal, schläfst du noch?", fragte die gespielt entsetzte Stimme meiner Freundin auf der anderen Seite der Leitung. Ich hasste es, wenn Menschen so früh schon so motiviert und für Späße aufgelegt waren.

„Was willst du, Grace?" Meine Augen waren dabei noch immer geschlossen. Es war so hell in meinem Zimmer, dass ich nach meiner Bettdecke griff und sie mir über den Kopf zog.

„Wie du weißt, schreibe ich später die Klausur über Handelsrecht und wollte fragen, ob wir heute Abend etwas trinken gehen?" Ich konnte genau das Lächeln auf ihren Lippen hören, als sie redete. Wie konnte jemand so früh am Morgen schon so fröhlich und gut gelaunt sein? Möglicherweise war das ein normaler Zustand bei Jura-Studenten, und ich wusste es nur nicht. Ich kannte nie welche.

Grace und ich lernten uns an meinem ersten Abend hier in London kennen. Ich war ein absolutes Wrack und hatte bereits mein Versprechen an mich selbst, nie wieder eine Träne wegen Aiden zu heulen, gebrochen. Sie gabelte mich nachts betrunken auf, als ich mich fest entschlossen von der Millennium Bridge stürzen wollte. Ich schüttete ihr die ganze Nacht mein Herz aus, und sie half mir hier in London Fuß zu fassen.

Wäre sie nicht gewesen, wäre ich vielleicht wirklich gesprungen und ertrunken oder erfroren.

„Wie spät ist es?" fragte ich und kam mit dem Kopf wieder aus meiner Decke hervor. Erst, als ich wacher wurde, merkte ich, wie sehr mein Schädel nach dem gestrigen Alkoholexzess dröhnte.

„Halb 10. Ich habe einen Tipp für eine Bar von Ella bekommen, und da wollte ich gerne mit dir heute Abend hin." Ella. Der Name sagte mir etwas, und ich wusste, dass ich ihn mir merken sollte. Ich kam aber nicht drauf.

„Sorry. Wer ist Ella nochmal?" fragte ich wieder und öffnete nun meine Augen, was ich sofort bereute, weil mir das helle Licht, das durch meine Gardinen schien, in den Augen brannte.

„Die heiße Dozentin aus dem Seminar für Erbrecht." Da war es wieder. Dieses hörbare Lächeln.

„Ach ja, genau. Die, in die du so verknallt bist." Ich richtete mich langsam auf, schaltete mein Telefon auf Lautsprecher und legte es neben mich auf den Nachttisch.

„Ich bin überhaupt nicht verknallt", entgegnete sie blitzschnell, worüber ich schmunzeln musste. Diese Ella hatte es ihr richtig angetan.

„Alles klar." Ich presste meine Hand für einen Moment gegen meine schmerzende Stirn, bevor ich neben mich auf den Boden und nach der Wasserflasche griff, die ich dort gestern Abend deponiert hatte. Ich nahm einen großen Schluck und erst jetzt merkte ich, wie wahnsinnig trocken meine Lippen und mein Mund waren.

„Apropos verknallt. Wie war dein heißes Date gestern Abend?" Sie wechselte das Thema. Noch ein Beweis dafür, wie verknallt sie war.

„Weder heiß, noch war es ein Date. Nach ein paar Drinks bin ich nach Hause gefahren", erklärte ich, als ich die Flasche wieder von meinem Mund absetzte und zudrehte. Ich wehrte mich innerlich gegen den Ausdruck "Date". Ich datete nicht. Das war eines der Dinge, die ich mir angeeignet hatte, seit ich damals aus dem Flugzeug stieg. Außerdem hielt ich mich grundsätzlich von jedem Typen fern, der mir gefährlich werden könnte. Das bedeutete nicht, dass ich abstinent lebte. Ganz im Gegenteil. Aber ich achtete sehr genau darauf, dass es Typen waren, die genau wie ich, einfach nur eine einmalige Nummer schieben wollten. Typen, die ich dann nie wieder sah. Keine Küsse, keine Zärtlichkeiten, keine netten Worte. Einfach nur das Befriedigen von Lust. Mein Bedürfnis nach Romantik hatte ich damals mit meinem Herzen in Atlanta gelassen.

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt