4. Kapitel

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„Hallo, Mutter", sagte ich emotionslos, als ich nach wiederholtem Klingeln mein Handy abhob. Es waren mehr als 3 Jahre her, als ich das letzte Mal etwas von ihr gehört hatte. Auch ohne ihre Nummer zu kennen, wusste ich, wer es war, wenn mich eine unbekannte Nummer immer wieder anrief, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

„Wie geht es dir, June?", fragte sie mit weinerlicher Stimme. Sie klang noch genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte - eine Stimme, die ich nur schwer ertragen konnte, weil sie unendlich viele negative Gefühle in mir auslöste.

„Seit wann interessiert es dich, wie es mir geht?", entgegnete ich. Ein großer Teil in mir verspürte das Bedürfnis, einfach wieder aufzulegen. Ein anderer Teil, das verletzte Kind, war froh, etwas von meiner Mutter zu hören. Denn es hatte die Hoffnung, dass es diesmal anders wäre als die ganzen anderen Male im Laufe meines Lebens.

„Du bist meine Tochter." Für einen Moment klang sie aufgrund meiner Frage überrascht.

„Das war ich auch die letzten 23 Jahre, und außer ein paar Malen hat es dich nicht interessiert, wie es mir geht. Übrigens genauso wie Philip, aber der hatte wenigstens den Anstand, mich nicht zu kontaktieren", erwiderte ich. Als ich 13 Jahre alt war, sah ich sie zum ersten und einzigen Mal persönlich. Sie erklärte mir, dass sie sich damals zu jung für ein Kind gefühlt hätte und Sorge hatte, nicht richtig für mich sorgen zu können, da sie finanziell nicht gut aufgestellt war. Sie versprach mir aber, das wieder gut zu machen, wenn ich älter wäre. Leere Versprechungen, die sie nie einhielt.

„Ich weiß, dass ich keine gute Mutter für dich war", sagte sie, nachdem sie kurz innegehalten hatte.

„Du bist eine Erzeugerin, keine Mutter", verbesserte ich sie. Es machte mich unglaublich wütend, dass sie es sich erlaubte, sich selbst als Mutter zu bezeichnen. Sie hatte in meinem ganzen Leben nicht eine Sache für mich getan, die man als mütterlich bezeichnen könnte. Keine Anrufe oder Karten an Geburtstagen oder Weihnachten. Das Einzige, was sie tat, war mir als Kind die Hoffnung auf ein Leben mit einer Mutter zu machen, um mich gleich darauf wieder zu enttäuschen. Ich kannte diese Frau gar nicht.

„Ich würde dich gerne sehen und mit dir persönlich sprechen." Als dieser Satz ihren Mund verließ, klang ihre Stimme noch kläglicher als ohnehin schon.

„Merkst du eigentlich, wie egoistisch du bist? Die ganzen vergangenen Jahre musste ich lernen zu akzeptieren, dass ich keine Mutter habe, weil es dir nicht wichtig war, mich in deinem Leben zu haben. Dann lerne ich damit umzugehen und ein Leben zu führen, in dem du keine Rolle spielst. Jetzt, wo ich erwachsen bin, möchtest du doch plötzlich Kontakt und so tun, als wäre nie etwas gewesen?" Die Wut in mir kochte nun immer weiter hoch. Es war für mich unbegreiflich, wie ein Mensch handeln konnte, ohne Rücksicht auf die Verluste anderer zu nehmen. Wenn ich die Situation heute betrachtete, konnte ich froh sein, dass ich nicht von ihr großgezogen wurde, sondern damals das Glück hatte, ein Zuhause in Aidens Familie zu finden.

„Ich werde sterben", sagte sie nun, ohne auf etwas von dem einzugehen, was ich zuvor sagte.

Für einen Moment schwieg ich. „Wenn du jetzt lügst, nur damit ich mich mit dir treffe, dann bist du absolut psychisch gestört", entgegnete ich mit ernster Stimme.

„Es ist keine Lüge, das schwöre ich dir. Ich liege im MD Anderson." Nun konnte ich aus ihrer Stimmlage erkennen, dass sie weinte, es aber versuchte zu unterdrücken.

„Du bist in Texas?" fragte ich überrascht. Als ich das letzte Mal von ihr hörte, lebte sie in einer Kleinstadt in der Nähe von Manchester.

„Ja. Ich habe vor zwei Jahren einen Amerikaner geheiratet und lebe seitdem in Denver." Für amerikanische Männer hatte sie anscheinend schon immer eine Schwäche. „Ich bitte dich, June. Ich möchte die Fehler aus der Vergangenheit wieder gut machen. Auch wenn ich das vermutlich nicht kann, möchte ich es wenigstens versuchen", bat sie.

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt