10. Kapitel

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„Du sahst tatsächlich noch nie so scheiße aus wie jetzt gerade." sagte ich, mir ein Schmunzeln unterdrückend, als Grace mir die Tür geöffnet hatte. Dort vor mir stand sie eingehüllt in ihrer riesigen Daunendecke. Ihre Nase war gerötet und wund. Aus der einen Seite ihres Nasenlochs lief etwas Schnodder welche sie mit einem Taschentuch in ihrer Hand, weg wischte.

„Du kannst mich auch mal." entgegnete sie und drehte sich um, um zurück in ihr Schlafzimmer zu verschwinden. Sie hatte mir eine Nachricht geschrieben, dass sie von einer Grippe erwischt wurde und flach lag. Natürlich besuchte ich sie.

Ich trat in ihre Wohnung ein und schloss die Tür hinter mir. Augenblicklich drang mir ein intensiver Geruch von Salbei in die Nase. Auf dem Boden lag ein kleiner Teppich und an der linken Wand hing ein großes Bild mit einer abstrakten Zeichnung darauf. Ich lief durch den Flur und warf einen Blick in ihr Schlafzimmer, als ich es erreichte. Grace lag eingerollt in ihrer Decke schräg in ihrem Bett. Auf dem Regal am Rande ihres Zimmer brannte eine kleine Lampe, wodurch der Raum in ein sanftes, goldenes Licht getaucht wurde. Daneben eine kleine Schüssel von der Rauch aufstieg, der den eben wahrgenommenen Salbei-Geruch verteilte. 

„Was ist das denn?" fragte ich, als ich näher dran gegangen war und es für einen Moment begutachtet hatte.

„Meine Mutter hat geräuchert. Der Salbei soll die bösen Geister vertreiben die mich krank gemacht haben." antwortete sie, nachdem sie in meine Richtung gesehen hatte. Taten Menschen das wirklich? Ich hatte schon öfter davon gelesen, dass man das machen konnte. Ich hatte aber noch nie erlebt, dass es wirklich jemanden gab der das machte. Mich erinnerte dieser Geruch wahnsinnig an Tot aber ich hatte keine Ahnung weshalb.

„Schön, dann hast du die Wohnung ja wieder für dich alleine." scherzte ich und setzte mich dann neben sie auf die Bettkante.

„Komm bloß nicht so nah sonst wirst du auch krank." sagte Grace sofort und versteckte ihre Nase und den Mund unter der Decke, um beim Sprechen nicht die Grippe-Viren und meine Richtung zu atmen.

„Keine Sorge, ich habe ein gutes Immunsystem. Ich werde fast nie krank." erwiderte ich. Das letzte mal war ich an Weihnachten vor 5 Jahren krank. Aiden und ich lagen beide die kompletten Feiertage und Silvester im Bett mit Suppe und Filmen. Das waren die schönsten Feiertage die ich je hatte. Danach war ich bis heute nie wieder krank, auch wenn es alle anderen um mich herum waren. Krank sein ohne Familie oder Menschen die ein liebten, war scheisse. Vielleicht war das der Grund weshalb sich mein Körper eine Grippe vorbehielt.

„Du glückliche. Ich kann mir krank sein nicht leisten. Ich schreibe in 4 Wochen eine Klausur und muss lernen." jammerte sie und schüttelte leicht ihren Kopf. Ich starrer Blick war jetzt an die Stuck-verzierte Decke gerichtet.

„Schon mal daran gedacht, dass du vielleicht genau deswegen krank bist? Dein Körper braucht eine Pause und weil du sie ihm nicht gibst, zwingt er dich dazu eine zu machen indem er das System lahm legt." erklärte ich, während ich nach dem Waschlappen griff der neben ihr auf dem Nachttisch lag und ihn ihr auf die Stirn legte. Stress war eine der häufigsten Ursachen dafür, dass Menschen krank wurden. Dazu gehörte natürlich auch eine erhöhte Anfälligkeit für Grippe.

„Ich habe aber nur das, June. Wer bin ich denn, wenn ich das Studium nicht schaffe? Mein Vater würde mich verstoßen." sagte sie nun und sah mich wieder an. Ich konnte deutlich die Panik und die Tränen in ihren Augen erkennen. Grace Vater war ein namenhafter Richter am obersten Landesgericht hier in London. Auch wenn sie es sich durch ihre meist fröhliche und motivierte Art nicht anmerken ließ, sie bekam neben dem Studium auch von zuhause Druck.

„Dann bist du genau die gleiche tolle Grace wie jetzt auch. Nur ohne abgeschlossenes Jurastudium. Aber soweit wird es nicht kommen, weißt du warum? Weil du die cleverste Person bist die ich je in meinem Leben kennenlernen durfte. Du wirst die Prüfung trotzdem mit Best-Note bestehen, auch wenn du 1 oder 1,5 Wochen weniger Zeit zum lernen hattest. Weil du es kannst!" sagte ich und sah sie an. Auf ihre Lippen schlich sich eine kleines Lächeln was mich ebenfalls zum lächeln brachte. Grace war die einzige wichtige Person die ich in meinem Leben hatte und ich glaubte ganz fest daran, dass sie alles schaffen konnte was sie wollte.





Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt