5. Kapitel

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„Was ist denn mit dir passiert?", fragte ich und musste mir mein Schmunzeln verkneifen, als Theo in das kleine Büro kam, in dem ich saß und arbeitete. Ich hatte angefangen, nun doch öfter morgens und mittags zu arbeiten, wenn er auch hier im Laden war. Jetzt, wo es Winter wurde und es eh nicht mehr so richtig hell draußen war, fürchtete ich mich doch etwas, wenn ich abends alleine hier war.

„Sag nichts. Ich glaube, meine Friseurin hatte einen Schlaganfall, als sie meine Haare geschnitten hat. Das ist die einzig logische Erklärung für das hier", antwortete er und deutete für einen Moment mit der Hand auf seine Haare. Anschließend goss er sich etwas Wasser in ein Glas.

„Was genau sollte es denn werden?", fragte ich und drehte mich nun mit dem Stuhl um, um ihn komplett betrachten zu können. Sein leicht gelocktes, blondes Haar war überall recht lang. Dazu war es noch seltsam zur Seite gestylt. Leider überhaupt keine Frisur, die ihm schmeichelte. Ich fragte mich, ob es überhaupt einen Menschen gab, dem dieser 'Look' schmeicheln würde.

„Ich wollte einen klassischen Fassonschnitt. Und bekommen habe ich eine Mischung aus Bradley Cooper und Miley Cyrus von 2013." Seufzend ließ er sich schräg gegenüber von mir in einen Sessel fallen und nahm einen Schluck seines Wassers. Ihm war die Verzweiflung deutlich ins Gesicht geschrieben. Seit ich für ihn arbeitete, hatte ich eine Sache über ihn gelernt: Er war wahnsinnig eitel, was sein Aussehen betraf.

„Okay, lass mich dir bitte helfen", sagte ich und ließ meinen Blick suchend nach einer Schere über den Schreibtisch wandern.

„Kannst du das?", mit skeptischem Blick sah er mich an, als ich eine Schere gefunden hatte und damit auf ihn zukam.

„Weiß ich nicht. Aber wir werden es gleich herausfinden", entgegnete ich und begann etwas an seinem Haar herumzupfen, um die Lage besser einschätzen zu können. Schlimmer als jetzt konnte es eh nicht mehr werden, und das wusste auch Theo, weshalb er mich einfach ohne Widerworte machen ließ. Im Notfall konnte man sie abrasieren. Oder er musste die nächsten Wochen eine Mütze tragen, bis seine Haare wieder so gewachsen waren, dass sie anständig geschnitten werden konnten.

Nachdem ich eine Weile kleine Stückchen von seinen Haaren abgeschnitten hatte, machte sich in mir eine Frage breit, an die ich die ganze letzte Zeit denken musste. Wir waren keine Freunde, und obwohl ich eigentlich auch nicht mit ihm befreundet sein wollte, konnte sich ein Teil in mir nicht verkneifen, ihm diese eine Frage zu stellen, die mir auf der Seele brannte.

„Wer ist eigentlich dieser Typ, der vor ein paar Wochen abends den Gin abgeholt hat?", seit ich ihm das letzte Mal erneut begegnet war, musste ich immer mal wieder daran denken. Ich ärgerte mich selbst darüber, dass mich die Sache nicht zu 100% kalt ließ, sondern da ein Fünkchen Neugierde war. Ich wusste ja, dass Theo ihn kannte.

„Warum fragst du?" Ich merkte, wie er nun seinen Blick von seinem Handy, welches er in der Hand hielt, löste und auf mich richtete. Meine Aufmerksamkeit lag weiterhin auf seinen Haaren.

„Ich bin ihm jetzt schon zweimal in einer Bar in West End begegnet. Ich dachte, vielleicht ist er ein Freund von dir", erklärte ich flüchtig und schnitt wieder einen kleinen Teil seiner Haare ab. Langsam machte ich Fortschritte bei seiner Frisur.

Für einen Moment hielt er inne, bevor er mir meine Frage beantwortete. „Sein Name ist Sawyer, und ich würde uns nicht wirklich als Freunde bezeichnen. Die Bar gehört ihm, und er kauft seinen Alkohol hier. Ich habe mit seinem älteren Bruder Blake zusammen studiert, durch den wir uns schon lange kennen", erzählte er. Bei dieser liebevollen und freundlichen Art überraschte es mich aber, dass Theo nicht mit ihm befreundet war. Ihm gehörte diese Bar also. Jetzt machte es auch Sinn, weshalb er beim letzten Mal dort war, obwohl er nicht arbeitete.

„Ist der Bruder auch so ein Arschloch wie er?", fragte ich und strich einmal durch die gesamten Haare, um einen Überblick des jetzigen Standes zu bekommen. Kaum hatte diese Frage meinen Mund verlassen, schon bereute ich es. Ich hatte nicht vor Theo wissen zu lassen, dass er unhöflich zu mir war. Aber genau das tat ich mit der Frage.

Nun schmunzelte er etwas, was meine Aufmerksamkeit auf ihn zog. Aus seinem Gesichtsausdruck war zu lesen, dass er genau wusste, was ich meinte, wenn ich ihn als Arschloch bezeichnete. „Sawyer ist sogar der nettere von den beiden, wenn man mal mit ihm warm geworden ist. Du solltest dich aber besser nicht mit ihnen anfreunden. Das ist mein Tipp an dich, June", sagte er eindringlich und richtete seinen Blick jetzt zurück auf sein Handy, auf dem er erneut rumtippte.

„Das hatte ich auch nicht vor", entgegnete ich knapp und konzentrierte mich wieder auf seine Haare.

Wenn Sawyer von beiden der nettere war, was für ein Unmensch musste sein älterer Bruder sein?

Blake {16 Jahre früher}

„Hey, kleiner Kumpel. Wie geht's?" fragte ich und strich Sawyer über die rote Mütze, die er gerade trug, so dass sie ihm kurz etwas über die Augen rutschte. Mein Blick scannte ihn sofort, als ich ihn erblickte. Das letzte Mal hatte ich ihn vor 3 Wochen gesehen. Er war dünn, dünner als vor 3 Wochen und dünner als andere 11-Jährige.

„Gut", antwortete er knapp und richtete seine Mütze wieder, als er aus der Tür heraus trat und meine Hand nahm, die er mit seiner kleinen Hand fest umschloss.

„Ich weiß noch nicht, ob ich es schaffe, ihn später abzuholen", sagte unsere Mutter und lehnte sich an den Türrahmen der geöffneten Haustür, vor der wir standen. Ihr Blick war gesenkt und zog dann an der Zigarette, die sie zwischen ihren Fingern hielt.

„Hast du Dad wieder beim Fernsehen gestört oder das Bier nicht schnell genug gebracht?" fragte ich stichelnd und deutete auf die letzten Reste eines Veilchens unter ihrem Auge.

Seit ich denken konnte, schlug er sie. Zuerst nur, wenn sie stritten, dann bei immer banalere Dinge. Irgendwann gab es gar keine Gründe mehr, aber er tat es trotzdem. Vor ein paar Jahren begann er dann nebenher andere Frauen zu verführen, bei uns zuhause, wo auch Sawyer es mitbekam, wenn er von der Schule kam. Sie blieb einfach bei ihm, obwohl sie sah, dass er auch mich nicht verschonte. Er war süchtig nach dem Gefühl der Macht, die er als Erwachsener auf einen damals 15-Jährigen hatte. Vor einem Jahr stellte ich sie dann vor die Wahl. Entweder verlassen wir ihn als Familie oder ich gehe. Ich ertrug es nicht mehr, dass er mich schlug, wenn ich sie zu verteidigen versuchte. Geendet hatte es damit, dass ich mit 16 auf mich alleine gestellt war, weil sie zu feige war, sich zu trennen.

„Wenn ich bis 20:30 nicht da bin, kann er bei dir übernachten. Aber bitte bring ihn morgen in die Schule, okay?", sagte sie und ignorierte das, was ich zuvor gesagt hatte. Sie sah mich jetzt für einen Moment an, und in ihren Augen war der gewohnte Schmerz zu erkennen, den ich gut kannte. „Ich habe dich lieb, mein Schatz." Sie beugte sich vor und gab Sawyer einen Kuss auf die Wange, bevor sie mit ihrem Daumen über die Stelle wischte. Er mochte Küsse nicht besonders und klagte schon immer darüber, dass sie nass waren.

Wir liefen die Stufen vor der Haustür hinunter und auf die Straße. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie unsere Mutter uns hinterher sah, bevor sie wieder im Gebäude verschwand und die Tür hinter sich schloss.

„Wie war es in der Schule?", fragte ich und richtete meinen Blick zu ihm nach unten. Seine Augen starrten vor uns auf den feuchten Asphalt.

„Gut", antwortete er. Wieder die gleiche knappe Antwort wie eben. Obwohl Saw noch ein Kind war und sich versuchte, nichts anmerken zu lassen, wusste ich, dass er enttäuscht von mir war, dass ich ihn alleine zurückgelassen hatte. Der Gedanke daran quälte mich täglich, und wäre da auch nur der Hauch einer Chance gewesen, hätte ich ihn mitgenommen. Als ich ihm damals erzählte, dass ich nach der Schule nicht mehr nach Hause kommen würde, weinte er bitterlich.

„Du bist jetzt der Mann im Haus, der Mama beschützen muss. Sei tapfer. Irgendwann bist du größer und stärker, und dann wirst du zurück schlagen können", waren meine letzten Worte, mit denen ich mich von ihm verabschiedete, bevor ich ging

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt