36. Kapitel

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„I-Ich hatte einen Moment der Schwäche", gestand ich und senkte meinen Blick, nachdem ich kurz über meine nächsten Worte nachgedacht hatte. Der Alkohol, der sich vor einer Weile noch in meinem Organismus befunden und mir den Verstand vernebelt hatte, war nun komplett verschwunden, weshalb ich spüren konnte, wie unangenehm mir die Tatsache war, dass ich nach unserem letzten Treffen doch wieder hierhergekommen war.

„Bist du so betrunken, dass du vergessen hast, worauf wir uns geeinigt haben?", fragte er mit rauer Stimme, weshalb ich ihn wieder ansah. Sein Kiefer machte erneut diese mahlenden Bewegungen, und der Ausdruck, der jetzt in seinem Gesicht lag, verbarg keinesfalls das, was er gerade dachte. Es passte ihm ganz und gar nicht, dass ich hier war. Es wunderte mich nur, dass er erst jetzt darauf reagierte und nicht schon vorhin, als er mich gesehen hatte. Womöglich lag es daran, dass sein Bruder da war.

„Nein", entgegnete ich knapp und schüttelte meinen Kopf. Natürlich hatte ich das nicht vergessen. Schließlich war ich die Person, die das beenden wollte, weil ich merkte, dass die Sache zwischen uns mir nicht guttat. Mit ihm zu schlafen fühlte sich nicht ansatzweise so an, wie ich zu Beginn erwartet hatte, wie es sich anfühlen würde. Es sollte außer der sexuellen Befriedigung nichts in mir auslösen, aber das tat es nicht. Das hatte es nie. Er löste mehr als das in mir aus: Wut, Verzweiflung, Frustration, Schmerz und dennoch Sehnsucht... Zu viele Dinge, die ich nicht spüren wollte.

„Dann gehe ich davon aus, dass das kein weiteres Mal passieren wird", sagte er mit einem kühlen Unterton und löste seinen Blick von meinen Augen, um die Aufmerksamkeit wieder auf die kleine Wunde an meinem Gesicht zu richten. Dann hob er erneut die Hand, in der er die Kompresse hielt, und fuhr damit sanft über die schmerzende Stelle auf meiner Haut, was ich diesmal zuließ.

„Das wird es nicht", versicherte ich und umklammerte mit meinen Händen die Kante des hölzernen Bartresens, an dem ich lehnte. Leicht verzog ich mein Gesicht, als ich das brennende Gefühl vernahm, das durch das Desinfektionsmittel ausgelöst wurde, als es meine Haut berührte.

„Gut", gab er wieder und warf für den Bruchteil einer Sekunde einen prüfenden Blick zu mir, bevor er nach der Tube mit der Creme griff, die er zuvor ebenfalls aus dem Erste-Hilfe-Kasten genommen hatte und nun öffnete, um eine kleine Menge davon auf seinen Finger zu geben und anschließend auf die Stelle aufzutragen.

„Beantwortest du mir unter diesen Umständen meine Frage?" versuchte ich es nochmals. Ein Teil in mir hatte sich damit abgefunden, dass ich wahrscheinlich nicht das hören würde, was ich hören wollte. Aber trotzdem wollte ich es nicht dabei belassen.

„Du solltest meine Freundlichkeit nicht überstrapazieren, June", warnte er erneut und richtete seinen Blick wieder in meine Augen. Dann drehte er den Deckel auf die Tube und wendete sich von mir ab, um sie zurück in den Erste-Hilfe-Koffer zu legen und diesen daraufhin geräuschvoll zu schließen.

„Wenn das die einzige Möglichkeit ist, dass du redest, dann muss ich das wohl. Denn ich dachte, ich würde wenigstens ein bisschen verstehen, wer du bist. Aber dann stellt sich heraus, dass ich gar nichts über dich weiß – wer du bist, was du machst und vor allem, was in deinem Kopf vorgeht", sagte ich jetzt. Mir war sehr wohl bewusst, dass ich mit dem Feuer spielte und ihn herausforderte. Womöglich würde er in Kürze wieder die unschönsten Dinge zu mir sagen, aber das war mir egal. Ich wollte einfach nur wissen, wer dieser Typ war. Ich hatte die Vermutung, dass ein Teil in mir hoffte, ein Bild von ihm zu bekommen, das es mir erleichtern würde, zu gehen und nie mehr wiederkommen zu wollen.

„Das war genau das, was du wolltest. Keine zwischenmenschlichen Gefühle. Kein emotionales Gerede. Nichts, was über das Körperliche hinausgeht. Erinnerst du dich?" Jetzt griff er nach einem Glas, das neben vielen anderen Gläsern umgedreht am Rand des Tresens stand, um es mit Alkohol zu befüllen, der ebenfalls in großer Auswahl daneben aufgereiht war.

Ja, ich erinnerte mich. Das waren meine Worte mit meinen Bedingungen für das alles hier. Und obwohl wir jeden dieser Punkte eingehalten hatten, hatte es bedauerlicherweise nicht funktioniert...

„Warum hast du es mir dann gesagt, wenn ich es gar nicht wissen soll?", fragte ich. Da war sie wieder. Die Ambivalenz, die Sawyer mit sich brachte, die einem Kopfschmerzen und schlaflose Nächte bereiten konnte.

„Weil es für dich ziemlich ungünstig wäre, wenn du diese Vermutung gegenüber jemand anderem geäußert hättest", entgegnete er, nachdem er für einen Moment nachdenklich gewirkt hatte. Dann richtete er seinen ernsten Blick wieder auf mich, während er einen Schluck aus dem Glas nahm, das er mit seiner Hand fest umschlossen hielt.

„Für mich oder für dich?" stellte ich nun leicht verwirrt die Gegenfrage.

„Für dich." 

„Weil du mir etwas getan hättest?", schluckte ich, nachdem ich für einen kurzen Moment innegehalten hatte, um über die Situation nachzudenken. Erst jetzt kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass Sawyer vielleicht doch gar nicht so harmlos war wie ich gedacht hatte. Ich kannte ihn nicht, weshalb es gut möglich wäre, dass er mir tatsächlich gefährlich werden könnte. Dennoch sagte mir mein Bauchgefühl etwas anderes...

„Nicht ich, nein", antwortete er schließlich, als er seinen Blick von meinem löste und den Rest seines Drinks leerte. Es schien so, als wäre es ihm wahnsinnig schwergefallen, diese Worte über seine Lippen zu bringen, was mich zu der Annahme führte, dass es hier bei der ganzen Sache gar nicht um Sawyer selbst ging, sondern um eine Person, die eine große und wichtige Rolle in seinem Leben spielte. Als mir dies bewusst wurde, fiel der Groschen.

„Dein Bruder verdient das Geld, richtig?", fragte ich wieder mit ruhiger Stimme, als ich ihn dabei beobachtete, wie er sich erneut etwas in sein Glas nachschenkte. Sein Schweigen sagte in diesem Moment mehr als Worte, weshalb ich dies als ein Ja auffasste. War das auch der Grund, warum er nicht wollte, dass ich hierherkam? Weil ich auf seinen Bruder treffen könnte? „Wie?"

„Kannst du dir das nicht denken?", stellte er die Gegenfrage und sah zu mir zurück, während er einen weiteren Schluck aus dem Glas nahm, auf das ich für einen Augenblick meine Aufmerksamkeit gelegt hatte.

Doch, das konnte ich. Jedes Mal, wenn ich Blake gesehen hatte, war er auf Drogen oder konsumierte etwas. In diesem Zusammenhang verstand ich auch, weshalb Sawyer diesem Thema gegenüber so stark abgeneigt war und damals dementsprechend reagiert hatte, als ich high zu ihm in die Wohnung gekommen war. Und der Streit danach mit Theo... Jetzt machte alles Sinn.

„Und was machst du bei dem Ganzen?", fragte ich erneut, nachdem ich nochmals für einen Moment innegehalten hatte.

„Ich habe damit nichts zu tun", sagte er knapp und richtete seinen Blick für einen Augenblick in sein Glas, bevor er einen weiteren Schluck daraus nahm.

„Es passiert in deiner Bar, Sawyer. Also hast du sehr wohl etwas damit zu tun. Wenn das rauskommt, bist du als Erster dran", entgegnete ich. Wenn man den Laden hochnehmen würde, dann wäre er als Inhaber logischerweise die erste Person, der man die Geldwäsche vorwerfen würde.

„Es wird nicht rauskommen", gab er überzeugt wieder und sah mir zurück in mein Gesicht.

„Wie kannst du dir da so sicher sein?", fragte ich nun etwas verwirrt. Wie konnte er das mit solch einer Überzeugung und ohne einen Hauch von Zweifel oder Sorge sagen?

„Weil es nur wenige Leute wissen", antwortete er, ohne seinen Blick von meinen Augen zu lösen, und kam jetzt wieder gelassen ein paar Schritte auf mich zu, sodass sich der Abstand zwischen uns verkleinerte.

Was bedeutete das? Wussten Sawyers Angestellte denn nichts von alldem? Und was war mit Theo? Er hatte mir gesagt, dass er Blake und ihn schon lange Zeit kannte. Ich war mir sicher, dass auch er davon wusste und möglicherweise sogar ebenfalls etwas damit zu tun hatte. Der Gedanke daran, dass Theo von alldem wusste, enttäuschte mich etwas.

„Ich weiß es jetzt", brachte ich hervor, als mir etliche Gedanken diesbezüglich durch den Kopf gegangen waren.

„Aber du wirst nichts sagen", antwortete er bestimmt, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. Die Art, wie er vor mir stand und mich ansah, schüchterte mich schon wieder etwas ein. Dabei konnte ich nicht mal sagen, ob er dies beabsichtigte oder nicht. Natürlich würde ich niemandem etwas sagen. Ich hatte nicht vor, dafür zu sorgen, dass er in Schwierigkeiten geriet, auch wenn sein Bruder es verdient hätte. Nach diesem Abend würde ich keinen der beiden jemals wiedersehen, weshalb es mir egal sein konnte, was hier passierte...

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt