50. Kapitel

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Ich hatte vergessen, wie schmerzhaft Weinen sein konnte, wenn es aus dem tiefsten Inneren eines Menschen herausbrach. Wenn sich zu viele Dinge in einem angesammelt hatten, wie es bei mir der Fall war. Da waren zu viele Dinge aus der Vergangenheit und nun zusätzlich auch aus der Gegenwart, die mir wehtaten und sich ihren Weg nach draußen bahnten. Denn das war es, was ich mir immer untersagte: Gefühle rauslassen, geschweige denn zu fühlen. Ich wusste, dass das jetzt meine Strafe war - ein Schmerz, der von meinem verletzten Herzen ausging, in meine komplette Brust ausstrahlte und sich von dort in jeden Winkel meines Körpers ausbreitete. Es war unerträglich..

Mit verschwommener Sicht, durch die Tränen, die sich gegen meinen Willen immer wieder in meinen roten und schmerzenden Augen bildeten, blickte ich auf das Display meines Telefons und scrollte durch Social-Media. Obwohl ich darauf starrte, nahm ich nichts von dem Inhalt wahr, den ich vor meiner Nase hatte.

Nach meinem Gefühlsausbruch bei Theo, rief er mir ein Taxi und schickte mich nachhause. Er wusste genauso gut wie ich, dass mit mir für diesen Tag nichts mehr anzufangen war, weshalb er mir ans Herz legte, etwas zu tun das mir aus meiner Gefühlslage helfen würde. Mein erster Gedanke war, ihn nach Drogen zu fragen aber das tat ich nicht denn ich wusste, dass er mir nichts gegeben hätte. Nicht nur weil ich Schwanger war, sondern weil ich so verzweifelt wirkte, dass ich mir selbst nicht einmal sicher gewesen wäre ob ich damit eine Dummheit angestellt hätte, nur um mein Leben nicht mehr ertragen zu müssen. 

Also tat ich, was er mir gesagt hatte, und fuhr nach Hause, um mich in meinem Bett zu verkriechen, zu heulen und zu warten, dass mein Körper erschöpft aufgab. Es vergingen etliche Stunden, und als ich merkte, dass mein Körper nicht vorhatte, mit dem Weinen aufzuhören, versuchte ich mich abzulenken. Zuerst wollte ich mich betrinken, aber entschied mich dagegen, als mir bewusst wurde, dass der Alkohol mich nur noch emotionaler machen würde, als ich es ohnehin schon war. Also kroch ich aus meinem Bett, nahm eine Dusche und setzte mich auf die Couch in meinem Wohnzimmer, wo ich mir einen Film anschaltete und auf mein Handy starrte. 

Ein starker Kopfschmerz breitete sich von meiner Stirn ausgehend in meinen gesamten Schädel aus, weshalb ich mein Handy zur Seite legte und mich nach einer Weile von der Couch erhob. Mit fast taumelndem Schritt lief ich durch den Flur und hinein in meine Küche, wo ich mir ein großes Glas aus dem Schrank nahm und es mit eiskaltem Wasser befüllte. Daraufhin öffnete ich eine weitere Schublade und griff nach zwei Brause-Schmerztabletten, um sie kurz danach aufzureißen und dann in das Glas hineinfallen zu lassen.

Wie in Trance blickte ich in die blubbernde Flüssigkeit hinein, aber zuckte erschrocken zusammen, als ich ein unerwartet kräftiges Klopfen an der Wohnungstür, nur einen Meter entfernt von mir, vernehmen konnte. Für eine Sekunde hielt ich inne und blickte in Richtung der Tür, ohne mich zu bewegen. Dann klopfte es erneut, fordernder. Wer auch immer dort vor meiner Tür stand, wusste, dass ich da war.

Mit langsamen Schritten ging ich aus der Küche und trat zurück in den Flur. Das Holz knarrte etwas unter meinen nackten Füßen, als ich darüber lief. An der Tür angekommen, schob ich die kleine Klappe am Spion zur Seite und spähte hindurch. Etwas verwundert runzelte ich die Stirn, als ich sah, dass das Licht im Treppenhaus erloschen war und niemand vor der Tür stand.

Meine zittrigen Hände fuhren zu dem im Schloss steckenden Schlüssel und drehten ihn leise um. Daraufhin öffnete ich die Tür einen winzigen Spalt breit, wodurch das Licht aus meiner Wohnung nur spärlich in das stockdunkle Treppenhaus fiel. Für einen kurzen Moment blieb ich vor dem Spalt stehen und lauschte, ob ich hören konnte, wie jemand die Treppen wieder nach unten ging. Als ich nichts hörte, öffnete ich die Tür weiter. Diesmal so weit, dass ich durch den Türrahmen und über die Türschwelle, auf den kühlen Absatz vor meiner Wohnung, im Treppenhaus treten konnte. Dabei hielt ich meine Hand die ganze Zeit am Rahmen der Tür, um zu vermeiden, dass sie hinter mir ins Schloss fiel und ich halb nackt, nur mit einem oversize Shirt und noch nassen Haaren, auf dem Flur stand.

Gerade als ich einen winzigen Schritt nach draußen gemacht hatte, bemerkte ich eine Präsenz im Schatten meiner Tür, neben mir. Erschrocken zog ich scharf die Luft in meine Lunge und konnte spüren, wie mein Herz für einen kurzen Augenblick aussetzte. Eine Weile blickte ich einfach nur in die Richtung der Person, während ich meinen stark pochenden Herzschlag in meinen Ohren hören konnte. Dann drückte ich die Tür meiner Wohnung noch ein Stückchen weiter auf, sodass mehr Licht in den dunklen Flur fiel, und ich sah, dass die Präsenz neben meiner Tür Sawyer war.

„D-Du hast mich erschreckt", gab ich schwer atmend zu und versuchte meinen rasenden Puls zu beruhigen. Ich war ziemlich überrascht von mir selbst, dass ich nicht geschrien hatte. Er hatte mir einen riesigen Schrecken eingejagt. Arschloch...

Mit entspanntem Schritt kam er nun langsam aus dem Schatten der Tür auf mich zu. Dabei machte ich ebenfalls einen Schritt zurück in meine Wohnung, wo ich mit beiden Händen am Türrahmen, bereit sie zuzuschlagen, stehen blieb. Der Ausdruck, der in seinem Gesicht lag, war stählern. Dennoch meinte ich ein minimales Schmunzeln um seine Lippen erahnen zu können. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er sich einen Spaß dabei erlaubte, mich zu erschrecken. Ich erinnerte mich nur zu gut an die Situation damals in Theos Laden.

Meine Knie wurden weich, und mein Magen drohte sich zu drehen, wegen der Tatsache, dass er hier vor mir stand. Ich wollte nicht, dass er hier war. Schon gar nicht heute, wo ich so schlecht aufgestellt war. Am besten nie wieder.

„Und du siehst heiß aus", sagte er mit rauer Stimme, ohne auf meine vorherigen Worte einzugehen, als er seine Augen für einen Moment an mir herabwandern ließ und mein Shirt musterte. Es war verwaschen und mit kleinen Mottenlöchern versehen. Als er sprach, drang ein von ihm stark ausgehender Alkoholgeruch in meine Nase, der mir eine Gänsehaut bereitete. Er war offensichtlich betrunken und machte sich über mich lustig. Wäre ich besser drauf, würde ich darauf einsteigen, aber das war ich nicht. Er hier, betrunken vor meiner Haustür, erinnerte mich schmerzlich an jenen Abend, als er nach dem Streit bei Theo zu mir gekommen war. Ich vertraute ihm nicht im betrunkenen Zustand.

„Du bist betrunken", stellte ich jetzt mit fast heiserer Stimme fest, woraufhin er seinen Blick in mein Gesicht richtete und auch dieses für eine kurze Weile nachdenklich musterte. Innerlich betete ich, dass er mir nicht ansah, wie schrecklich mein Tag war. Denn ich war mir nicht sicher, ob ich meine Tränen bei einer Konfrontation seinerseits lange zurückhalten könnte, wenn ich bereits jetzt merkte, wie sich meine Augen am liebsten schon wieder füllen wollten.

„Und du gehst mir aus dem Weg", entgegnete er und führte damit das seltsame Muster unserer Sätze fort, das entstanden war. Seine Aussage ließ mich schlucken.

„Ich gehe dir nicht aus dem Weg, Sawyer. Ich weiß nur nicht, was es noch zu bereden gäbe", antwortete ich jetzt kühl, ohne meinen Blick von seinen dunklen Augen abzuwenden. Sein scharfer Kiefer begann nun als Reaktion zu mahlen. Ich vermutete, dass ihn meine Aussage anpisste, weil er das ganz anders sah. Offensichtlich sah er das anders, denn sonst hätte er mich nicht wiederholt angerufen und würde sonst nicht hier, mitten in der Nacht, betrunken vor meiner Tür stehen.

„Bist du dir da ganz sicher? Denk nochmal scharf nach. Ich glaube, es gibt eine ganz bestimmte Sache, über die wir beide reden sollten", sagte er mit ruhiger, aber dennoch bedrohlich wirkender Stimme, nachdem er für einen kurzen Moment stumm zwischen meinen Augen hin und her gesehen hatte. Nein... Fuck... Fuck... er wusste es...

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt