Wie konnte ich nur so dämlich sein? Diesen Satz hatte ich mir immer und immer wieder gestellt, als sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten und ich langsam nach unten ins Erdgeschoss des Gebäudes gefahren war. Wie konnte ich nur so dämlich sein und mich dafür entscheiden, es Sawyer erzählen zu wollen? Was hatte ich mir davon erhofft? Irgendetwas musste ja mein unbewusstes Bedürfnis dahinter gewesen sein, denn ansonsten wäre ich diesen Schritt nicht gegangen.
Nachdem ich schwer atmend aus dem Wohnhaus getreten war, konnte ich spüren, wie stark meine Brust schmerzte, als ich die kühle Nachtluft in meine Lunge inhalierte. Noch immer konnte ich meinen hämmernden Herzschlag wahrnehmen. Mein Körper fühlte sich an, als hätte man ihn unter Strom gesetzt.
Während ich langsam die beleuchtete Straße entlangging und an die Dinge dachte, die eben oben passiert waren, überraschte es mich, dass ich äußerlich so ruhig gewesen war, denn diese Situation hatte Panikattacken-Potenzial. Sogar mehr als die Situation in Sawyers Laden, in der ich wirklich eine kleine Panikattacke erlitten hatte. Auf meinem Weg zur U-Bahn kam mir dann plötzlich ein Gedanke, der mir bis jetzt noch gar nicht in den Sinn gekommen war und der vielleicht der Grund war, weshalb dieses Bedürfnis in mir aufkam, Sawyer von der Sache wissen zu lassen: Es würden in nächster Zeit einige Kosten auf mich zukommen, von denen ich mir nicht einmal sicher war, ob ich sie alleine tragen konnte.
Sofort schweiften meine Gedanken zu Theo. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte ich mir für meine Kündigung bei ihm gar nicht aussuchen können. Auch wenn der Grund für einen neuen Job derselbe war wie zuvor, konnte ich es mir aktuell nicht leisten, ihn zu verlassen. Theo bezahlte mich gut, und er hatte mir ohnehin angeboten, mein Gehalt zu erhöhen. Ein Angebot, das ich in meiner jetzigen Lage nicht ablehnen konnte und auch nicht sollte, wenn ich ohne Schulden und Probleme aus der Situation herauskommen wollte..
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Nachdem ich Theo vor einiger Zeit von meiner Kündigung erzählt hatte, konnten wir uns darauf einigen, dass ich überwiegend abends nach Ladenschluss oder auch von Zuhause aus arbeiten konnte, wenn es möglich war. Auch wenn ihm dazu Fragen ins Gesicht geschrieben waren, akzeptierte er es in der weiteren Zusammenarbeit, worüber ich froh war. Denn ich wollte bis Ende unseres Dienstverhältnisses und darüber hinaus für mich behalten, dass es daran lag, dass ich mit seinem unfreundlichen Kumpel/Kollegen/Kunden geschlafen, mich in ihn verliebt hatte und ihm deshalb nicht mehr begegnen wollte. Bis heute wusste ich nicht, was die beiden eigentlich miteinander verband oder was genau sie waren. Das einzige, was ich wusste, war, dass Sawyer ihm nie etwas von uns erzählt hatte. Ich war überzeugt, dass ich es gemerkt hätte, falls doch. Wenn wir uns sahen, was mittlerweile recht selten vorkam, wirkte es nicht so, als gäbe es in Theos Kopf auch nur die geringste Vorstellung zu Sawyer und mir.
Mit leicht zitternden Beinen stand ich frierend vor dem großen Schaufenster von Theos Laden, um hineinzublicken. Das warme Licht drang aus dem hinteren Bereich und dem sichtbaren Teil des Büros und strahlte, immer schwächer werdend, bis nach vorne durch. Theo stand hinter dem Verkaufstresen und blätterte vertieft durch einen Katalog. Obwohl es so spät war, überraschte es mich nicht, dass er noch da war. Das tat er häufig, weshalb ich wusste, dass ich nicht vor geschlossenen Türen stehen würde, wenn ich ihm spontan einen kurzen Besuch abstatten wollte.
Langsam machte ich ein paar Schritte auf das Fenster zu und klopfte leise dagegen, um ihn nicht zu erschrecken. Daraufhin löste er sofort seinen konzentrierten Blick von dem Katalog und richtete ihn in meine Richtung. Sein Gesichtsausdruck wirkte überrascht, als er mich sah, lief dann aber hinter dem Verkaufstresen hervor, durch den vorderen Bereich des Ladens und zur Eingangstür, zu der ich ebenfalls lief. Augenblicklich vernahm ich das Geräusch des Schlüssels, wie er ihn im Schloss drehte, um die Tür zu öffnen.
„Geht es dir gut? Was machst du denn mitten in der Nacht hier?", fragte er und klang nun genauso überrascht, wie er aussah.
„I-Ich brauche den Job", war das Erste, was ich in diesem Moment herausbrachte. Dabei konnte ich deutlich spüren, wie die Anspannung von meinem Körper abfiel, als ich diese Worte ausgesprochen hatte.
„Was?", die Überraschung in seiner Stimme und seinem Gesichtsausdruck wandelte sich jetzt schlagartig in Verwirrung, weshalb sich seine Stirn etwas in Falten legte. Offensichtlich konnte er mir gerade nicht ganz folgen.
„Ich brauche den Job hier. Ich kann nicht kündigen. Nicht jetzt", sagte ich verständlicher und verschränkte dabei meine Arme vor der Brust, um mich vor der Kälte zu schützen, die sich durch meinen Körper zog. Von Sekunde zu Sekunde begann ich immer mehr zu zittern.
„Und das konnte nicht bis morgen warten?", fragte er und zog dabei etwas verwundert die Augenbraue hoch. Daraufhin öffnete er die Ladentür ein Stück weiter und machte einige Schritte zur Seite, um mir zu signalisieren, dass ich in den Laden kommen sollte, was ich tat.
„Doch, aber ich war gerade in der Nähe", log ich und wendete mich wieder in seine Richtung, als ich mich im Warmen befand. Hierher zu kommen konnte nicht bis morgen warten. Die Angst, dass er den Job neu vergeben könnte, war zu groß, wodurch ich mit Sicherheit keine ruhige Nacht gehabt hätte.
Nachdem Theo die Tür ins Schloss gedrückt hatte, drehte er sich ebenfalls zu mir um und lauschte meinen Worten für einen kurzen Augenblick. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und sah wieder zu mir zurück. Es war offensichtlich, dass er mir nicht ganz glaubte. Ich musste zugeben, dass ich es verstehen konnte. Hier um halb 2 Uhr morgens auf der Matte zu stehen, wirkte äußerst dringend.
„Steckst du in Schwierigkeiten?", fragte er und lief durch den vorderen Bereich des Ladens. Mit entspanntem Schritt tat ich es ihm gleich.
„Nein", entgegnete ich knapp und schüttelte dabei meinen Kopf. Ich folgte ihm weiter bis hinter den Verkaufstresen, über den ich kurz meinen flüchtigen Blick schweifen ließ, und dann in das kleine Büro, wo er sich wie gewohnt auf seinen Sessel in der Ecke des Raumes niederließ.
„Bist du sicher?", fragte er jetzt eindringlicher.
„Ja."
„So wirkst du aber nicht. Genauso wenig wie zu dem Zeitpunkt deiner Kündigung", stellte er fest und schüttelte ungläubig den Kopf. Ich wusste, dass er es gut meinte, aber wenn er nicht aufhören würde, nachzubohren, würde er mir die ganze Situation noch zusätzlich erschweren.
„Dann sag nein", antwortete ich ehrlich. Ich würde ihm nichts von all dem erzählen, und das sollte er wissen. Entweder würde er, genau wie bei meiner Kündigung, akzeptieren, dass ich die Details meines Lebens für mich behielt, oder nicht. Wenn er es nicht akzeptieren wollte, dann hatte er die Wahl, unsere Zusammenarbeit zu beenden.
„Du weißt, dass ich nicht nein sagen würde, June", antwortete er und runzelte erneut verwundert die Stirn. Ja, ein Teil in mir wusste es. Weil ich die Vermutung hatte, dass Theo mich etwas mehr mochte als ich ihn. Auf eine andere Art mochte, als ich ihn mochte. Aber diese möglicherweise schmerzliche Erfahrung würde er eines Tages machen müssen, wenn ich diese Misere überstanden hatte und gehen musste. Denn zwischen uns würde nie etwas anderes sein außer das, was es jetzt gerade war..
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Between Tears and Whisky Sour
Teen Fiction{1. Teil der Preposition-Trilogie} Nachdem June die Liebe ihres Lebens in flagranti erwischt, verlässt sie ihre Heimat Atlanta und zieht nach London. Sie verspricht sich, nie wieder eine Träne für ihr vergangenes Leben, ihren Ex-Freund oder sonst ei...