39. Kapitel

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Schmerzerfüllt kauerte ich auf dem kalten Fließenboden im Badezimmer vor meiner Toilette, in die ich mich bereits seit über 20 Minuten geräuschvoll übergeben musste. Die einzigen Dinge, die ich in diesem Moment wahrnahm, waren das unerträgliche Brennen in meinem Hals, die Tränen, die durch das ständige Würgen an meinen Wangen hinunterliefen, und die Gedanken in meinem Kopf, wie ich an den Punkt kommen konnte, an dem ich mich jetzt gerade befand – ein Punkt, an den ich mir fest versprochen hatte, nie wieder zu kommen.

Nachdem mir gestern Nacht bewusst geworden war, wieso ich mich in Sawyers Gegenwart so fühlte, wie ich es tat, ging es mir elend. Meine Gedanken kreisten unentwegt, und ich fragte mich immer wieder, wie es dazu kommen konnte. Der Effekt, den er auf mich hatte, egal in welcher Art, brachte mich offensichtlich an meine physische Grenze, weshalb ich mich, wie nach der einen Nacht, in der er betrunken zu mir gekommen war und wir uns gestritten hatten, schon wieder übergeben musste. Ich vermutete, dass mein Körper versuchte, etwas loszuwerden, das er nicht tragen konnte.

Die einzige Person in meinem Leben, in die ich zuerst verliebt war und dann zu lieben begann, war Aiden. Uns verband neben dem Körperlichen auch eine Freundschaft, wodurch mir die Gefühle, die ich für ihn hegte, plausibel erschienen. Mit Sawyer hingegen hatte ich nur geschlafen. Ich war enttäuscht von mir selbst, dass es mir, obwohl ich diese Regeln für mich aufgestellt und berücksichtigt hatte, trotzdem nicht gelungen war, mein Herz vor ihm zu schützen.

Die Konsequenz, die ich für mich aus all dem ziehen musste, war klar: Ab jetzt konnte ich Sawyer wirklich nicht mehr wiedersehen. Ich durfte und wollte nicht riskieren, dass das, was ich aktuell für ihn empfand, zu etwas Größerem und Schmerzhafterem werden würde, was mich erneut so aus der Bahn werfen würde wie die Sache mit Aiden und Brooklyn. Der Rahmen, in dem sich das Ganze aktuell noch befand, war etwas, das ich in den nächsten paar Wochen lösen könnte, wenn ich konsequent blieb.

Glücklicherweise schien es mir keine besonders große Herausforderung zu werden, den Kontakt von nun an auf das absolute Minimum zu reduzieren. Der Abgang, den ich gestern Nacht hingelegt hatte, war äußerst unangenehm. Denn nachdem ich mir über meine Gefühle für Sawyer bewusst geworden war, konnte ich ihm kein weiteres Mal in die Augen sehen. Ich wusste, dass auch er den plötzlichen Umschwung der Stimmung in dieser Situation bemerkt hatte. Dennoch hielt er mich nicht auf, als ich mich daraufhin so schnell wie möglich kommentarlos von dannen machte..

Mit meinem Handrücken wischte ich mir den kalten Schweiß von der Stirn, als ich merkte, dass das Übergeben endlich vorüber war. Möglicherweise hatten auch die vier Caipirinha, die ich gestern Nacht auf fast nüchternen Magen getrunken hatte, etwas mit meiner jetzigen Übelkeit zu tun – und nicht nur die Sache mit Sawyer. Generell überraschte es mich, dass ich seit einiger Zeit so stark reagierte. Und nicht nur auf ihn, sondern auch auf die Sache mit meiner Mutter vor einer Weile. Es hatte mich so sehr aus der Bahn geworfen, dass mein Körper vorübergehend nicht funktioniert hatte, und so kannte ich mich nicht. Ich war zwar schon immer eine Person gewesen, die sensibel auf verschiedene Dinge reagierte, aber nicht auf diese Art. Und seit ich in London lebte, hatte ich, so dachte ich, das Sensibelsein abgelegt. Dinge, die mir früher einmal etwas bedeuteten und wichtig waren, waren mir heute egal.

Während ich so da saß, merkte ich, wie ich mich immer mehr in meinen Gedanken verlor, bis hin zu einem ganz bestimmten Punkt, an den ich mich nicht ansatzweise gewagt hätte zu denken. „Oh Gott, bitte nicht", brachte ich flüsternd heraus und stand so schnell ich konnte vom Boden auf. Als ich spürte, dass mir von der schnellen Bewegung ganz schwarz vor Augen wurde, musste ich mich für einen Moment an der Wand neben der Toilette festhalten, um nicht umzukippen. Dabei vernahm ich das starke Zittern meiner Beine und wie sich alles um mich herum drehte.

Es vergingen einige Sekunden, in denen ich ruhig da stand und darauf wartete, dass das Kribbeln aus meinem ganzen Körper und meinem Kopf verschwand. Als ich mich auf meinen Beinen wieder sicher fühlte, lief ich mit zügigen Schritten durch das Badezimmer und stellte mich vor den großen Ganzkörperspiegel, der an der Wand befestigt war. Mit meiner Hand umgriff ich den Stoff des Shirts, das ich trug, und hob es hoch, um einen Blick auf meinen Bauch zu werfen. Dann drehte ich mich langsam hin und her und betrachtete ihn von allen möglichen Seiten. Je mehr ich ihn anstarrte, desto mehr glaubte ich eine minimale, fast nur zu erahnende Wölbung zu erkennen. Ich bildete mir ein dass es aussah, als hätte ich einen Döner gegessen. Mein Bauch sollte nicht aussehen, als hätte ich einen Döner gegessen, wenn es so früh am Morgen war und ich mir zuvor die Seele aus dem Leib gekotzt hatte.

Geschockt ließ ich den Stoff meines Shirts fallen und richtete den Blick in mein gespiegeltes Gesicht, um nachzudenken. Seit die Sache mit Sawyer angefangen hatte, waren meine Tage hin und wieder ausgeblieben. Dass dies schon etliche Male in meinem Leben passiert war, hatte mich keinesfalls beunruhigt. Es hatte in besonders stressigen Phasen während meines Studiums begonnen. Auch nach der Zeit, in der ich krank war und einiges an Gewicht verloren hatte, waren sie ausgeblieben. Ebenso nach der Sache mit meiner Mutter, in der mein Körper noch zusätzlich reagiert hatte. Ich schrieb es jedes Mal dem emotionalen Stress zu, den ich hatte, und lag bis heute nie falsch.

Mit schnellen Schritten lief ich aus dem Badezimmer, durch den Flur und in mein Schlafzimmer, wo ich nach meinem Telefon griff und mich an den Rand des Bettes setzte. Hastig öffnete ich die App, in die ich meine Menstruation eintrug, und scrollte hindurch, um zu sehen, wie lange meine Periode diesmal ausgeblieben war. 6 Wochen... Eine Zahl, die mich verunsicherte und in den nächsten Stunden in eine enorme Panik versetzen könnte, wenn ich zu viel darüber nachdachte. An sich war es keine außergewöhnliche Zahl. Ich hatte auch schon mal 8 Wochen auf meine Periode warten müssen.

Mein erster Impuls war es, Grace anzurufen und mit ihr darüber zu sprechen. Sie wusste meistens, was man tun musste, und ich hatte Angst, damit alleine zu sein, wenn es doch mehr war als nur stressbedingt. Aber da war dieser große Widerstand in mir, der mich dazu brachte, mein Handy neben mich auf mein Bett zu werfen. Ich wollte nicht darüber nachdenken und schon gar nicht wollte ich darüber reden. Denn über eine mögliche Schwangerschaft zu reden würde bedeuten, dass ich auch über Sawyer reden musste – einen Kerl, mit dem ich seit fast einem dreiviertel Jahr schlief und in den ich mich verliebt hatte.

Nachdem ich meinen Blick aus dem Fenster gerichtet hatte, um über die ganze Situation nachzudenken, entschied ich mich dazu, mir einen Gefallen zu tun. Ich würde kurzen Prozess machen und mir einen Schwangerschaftstest kaufen. Ich brauchte Gewissheit, um in Frieden weiterleben zu können und die Sache ein für alle Mal abschließen zu können...







Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt